Rezension

Familie und andere Probleme

Sommer in Maine - J. Courtney Sullivan

Sommer in Maine
von J. Courtney Sullivan

Bewertet mit 4 Sternen

„Umgeben von glücklichen Menschen, die dankbar waren, hier sein zu dürfen, konnte Alice in Cape Neddick vergessen. Die Kinder rannten mit ihren Cousins in Rudeln durch die Gegend und brauchten nichts. Abends beobachtete sie, wie sich der Himmel über dem Meer rot färbte. Es brachte ihr in Erinnerung, dass Gott nicht nur Schmerz, sondern auch Schönheit geschaffen hatte. Im Sommer in Maine war sie ein anderer Mensch.“

Seit Jahrzehnten treffen sich in jedem Sommer die Mitglieder der Familie Kellerher in ihrem Ferienhaus in Maine. Dort, in dem Haus, das Alice und ihr Mann Daniel einst erworben hatten, wimmelte es jahrelang von Geschwistern, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen. Nun ist Alice alt und das Leben hat für viele unschöne Erinnerungen gesorgt. An nicht wenigen davon ist Alice beteiligt und zwischen einigen Familienmitgliedern klaffen enorme Gräben. Auch in diesem Jahr hat jeder seine ganz eigenen Sorgen im Gepäck – und zudem Neid, Eifersucht und besagte unschöne Erinnerungen…

 

„Laut Arlo sollte man sein kurzes Leben mit Menschen verbringen, die einen glücklich machten. Außerdem war er davon überzeugt, dass ein Gefühl der Zugehörigkeit durch Taten entstand. Man war sich nicht nah, nur weil man demselben Stammbaum erwachsen war.“

 

Beim Lesen dieses Buches hatte ich das, was man wohl ein Wechselbad der Gefühle nennt. Zunächst tendierte ich stark zu den Charakteren, die sich bemühten, einen Kontakt mit den ungeliebten Familienmitgliedern auf ein nicht zu vermeidendes Ausmaß zu beschränken. Andererseits weiß ich auch, dass es mit den Gefühlen für die Familie nicht immer so leicht ist. Da gibt es Verantwortlichkeiten, da gibt es Gefühle von Schuld, da gibt es Zweifel, ob man nicht selbst auch so manches Zerwürfnis verursacht hat und zudem gibt es meistens nicht nur schlechte Erinnerungen, sondern auch schöne Momente, gibt es nicht nur Dinge, die einen trennen, sondern auch Gemeinsamkeiten.

 

Im „Sommer in Maine“ schlüpft der Leser mal in die Haut von Alice, mal in die ihrer Tochter Kathleen, der Schwiegertochter Ann Marie oder der Enkelin Maggie. Die Kapitel werden wechselweise aus der Sicht dieser Charaktere erzählt, es mischen sich Erinnerungen und Gegenwart. Besonders interessant fand ich dabei, wie total verschieden manche Erlebnisse von den einzelnen Personen empfunden wurden, wie anders sich eine Begebenheit anhörte, wenn sie aus der Sicht eines anderen Charakters erzählt wurde.

 

Eigentlich – wenn man das so liest – denkt man sich: Na klar, verschiedene Personen, verschiedene Einstellungen. Aber die vielen Gefühle, die da reinspielen, machen das Miteinander so kompliziert…

 

„Sie fuhren ja nicht nur zum Spaß nach Maine, sondern sie hatten eine Verantwortung, und die sollten sie teilen.“

 

Eine Gemeinsamkeit, die fast alle weiblichen Mitglieder der Familie Kellerher haben, ist ihr Problem mit Alkohol. In der Art, wie sie mit diesem Problem umgehen, zeigt sich wieder ihre Verschiedenheit. Die Schilderungen, wie sich der Alkoholismus durch die Generationen zog, wirkten sehr glaubwürdig und erschütterten mich sehr.

 

Und natürlich sind da auch noch die berühmten Geister der Vergangenheit. Sehr schnell ahnt man, dass Alice in ihrer Jugend ein traumatisches Erlebnis hatte. Immer wieder gibt es Andeutungen, kommt man der Wahrheit langsam näher und merkt, wie sehr ein einziges Erlebnis ein ganzes Leben verändern und beeinflussen kann.

 

Im Rückblick würde ich sagen, hat mich die Lektüre wirklich gefesselt, allein schon weil die Frauen, jede für sich, sehr interessante und vielschichtige Charaktere sind. Sehr entspannend war das Lesen aber nicht immer. Dafür waren hier ständig viel zu viele Emotionen im Spiel, manches Mal hab ich noch lange, nachdem ich das Buch zugeklappt hatte, über das gerade Gelesene nachgedacht.

 

In der Leserunde las ich in einem Beitrag, dass dieses Buch „ein Paradies für Hobbypsychologen“ wäre. In der Tat, das sehe ich ganz genauso. Wenn wir mit einem Charakter in seine Vergangenheit reisen und lesen, was da ursprünglich für Träume und Lebenspläne waren und dann sehen, was daraus geworden ist, dann lässt uns das manches mit anderen Augen betrachten.

 

„Und dann war da das Schuldgefühl, die Hausmarke der Religion, in die sie hineingeboren war. Als Kathleen ihrem Vater versprach, auf Alice aufzupassen, hatte sie nicht bedacht, wie schwer das sein würde. Ihr war klar, dass Frauen in ihrer Situation nicht so weit weggehen sollten. Es wurde von einem erwartet, dass man in der Nähe der Kinder und der alternden Eltern blieb und die mittleren Lebensjahre ihrem Wohlergehen opferte, egal, was sie einem früher angetan hatten. Ganz egal.“

 

Fazit: Reichlich starke Emotionen und interessante Charaktere sorgen für ein fesselndes Leseerlebnis.