Rezension

Familienchronik

Eine nie vergessene Geschichte - Jan Koneffke

Eine nie vergessene Geschichte
von Jan Koneffke

Bewertet mit 4 Sternen

Eine Familienchronik von 1898 bis ins Heute, angesiedelt in einem kleinen Ostseedorf nahe Stettin im Pommerschen. 

Erzählanlass ist der Unfalltod der Großeltern und der nun zum ersten Mal erwähnte Großonkel Felix, der irgendwann in den Zwanziger Jahren kurz vor der geplanten Doppelhochzeit Braut und Bruder sitzenließ und für immer verschwand. Eine Kränkung, die die Familie nie vergaß und ihn fürderhin aus den Familienannalen strich. Die Neugier des Enkels, unseres Erzählers ist geweckt und er spürt der Geschichte nach.

Keine wirklich neue Erzählsituation. Und doch macht Jan Koneffke daraus etwas ganz Eigenes, höchst Lesenswertes.

Großvater Leopold Kannmacher ist Gymnasiallehrer und holt sich seine Braut Clara aus der Stadt Stettin aufs Land. Er wird ihr in lebenslanger tiefer Liebe verbunden sein, aber seine Frau kommt in der provinziellen enge nur schwer zurecht. Vier Söhne wird sie zur Welt bringen. Der kleine Julius wird schon als Kind im Eis ertrinken, der geliebte Friedrich im Ersten Weltkrieg sein Leben verlieren. Spätestens ab da verfällt sie zunehmend dem Wahnsinn, verliert den Bezug zur Realität und besonders zu ihren beiden verbleibenden Söhnen. Der Vater hingegen zieht sich immer mehr zu seinen Studien der "Reinen Vernunft" seines geliebten Kant zurück.
Kein einfaches Umfeld für die Jungen um Erwachsen zu werden. Felix verliert sich darum zunehmend in der Welt der Musik, seinem Rückzugsort.

"Und sie kicherte nicht, als er sagte, wenn er am Klavier sitze, herrsche kein Krieg - und sein Bruder Friedrich sei nicht an der Front und Julius nie in der Wipper versunken und Mutter vertrage sich wieder mit Vater und es regne Kartoffeln und Buttermilch, Eier und Zimtstangen und Pudding vom Himmel."

Emilie Sielaff ist das von beiden Brüdern angehimmelte Mädchen. Als sie sich für Ludwig entscheidet, lässt sich Felix zunächst auf eine Verlobung mit ihrer resoluten Schwester Alma ein, um dann aber mit einem rumänischen Pianisten nach Rom zu verschwinden. Seine Rolle als schwarzes Schaf der Familie ist besiegelt.
Wir begleiten weiterhin wechselseitig Familie und Felix auf ihren Wegen durch die Zeitläufte, bis sich Felix Spur verliert.

Jan Koneffke widmet das Buch seinem verstorbenen Vater und sicher ist auch einiges aus der eigenen Familiengeschichte in diesen prallen, annekdotenreichen Roman eingeflossen. 

Die Charaktere sind liebevoll und genau geschildert, so manch ein charakteristischer Spruch zieht sich durchs ganze Buch, so z.B. der Ausspruch der Magd Mathilde  "Wir kommen ja nicht aus der Walachei" oder ihr  "Wenn das kein Fehler ist, heiße ich Josefin Baaker" oder Vater Leopolds pessimistischer Satz "Aus diesem wurmstichigen Holz, das sich Menschheit nennt, wird man nie etwas Rechtes schnitzen!". 
Die Gegend ist rau und archaisch, es gibt die die Zukunft in Erbsen oder auch Tiereingeweiden vorhersagende Korbmacherwitwe und den die Dinge erriechenden Schafhirten. Eine ganze Reihe eigenwilliger Charaktere, die durch die detailreiche, mit leiser Ironie durchzogene Schilderung nie zum bloßen Kuriositätenkabinett verkommen. 
Die zeitgeschichtlichen Entwicklungen fließen ein, nehmen aber nie Überhand.

Am Ende beschließt der Erzähler-Enkel "Ich werde sein Leben erfinden", das des verschollenen Großonkels nämlich. Und vom Vater gefragt, warum, mutmaßt er: "... um mir darüber klarer zu werden, ob wir eine Krankheit sind oder ein Zufall. (...)Oder zu keinem anderen Zweck, als den Staub zu ehren." Und darum geht es in allen gelungenen Familien- und Erinnerungsbüchern.