Rezension

Familiengeheimnisse - ein Roman des 20. Jahrhunderts

Porträt auf grüner Wandfarbe -

Porträt auf grüner Wandfarbe
von Elisabeth Sandmann

Bewertet mit 5 Sternen

Gwen Farleigh, die als Tochter einer deutschen Mutter in London lebt, wird in den 90ern des vorigen Jahrhunderts vom Anruf ihrer Tante Lily überrumpelt, die mit Gwen nach Berlin zu Freundin Lotte reisen will und anschießend ins heutige Koszalin an der polnischen Ostseeküste, wo Gwens Vorfahren ein Gut besaßen. Lilys Mutter starb bei ihrer Geburt, Großvater Jakob Steins zweite Frau Ilsabé ist Gwens Großmutter. Gwen, die stets unter der Fremdheit ihrer deutschen Mutter Marga in England und deren ungeklärtem Tod in den 80ern gelitten hat, realisiert, dass ihr Onkel Theo (der passenderweise als emeritierter Professor in Oxford lebt) mit fast 90 einer der letzten Zeitzeugen ist. Die Gelegenheit, ins Land ihrer Vorfahren zu reisen und dabei Verschwiegenes an die Oberfläche zu holen, sollte Gwen nicht ausschlagen.

Durch Briefe und Tagebücher einer Ella Blau aus dem Tölzer Land aus Margas Besitz lernen wir eine selbstbewusste 13-Jährige kennen, 1898 geboren, die sich im beginnenden Tourismus in Josefa Hubers bürgerlichen Haushalt samt Gästebetrieb vorstellt „Ich kann alles, was man mir aufträgt“. Von ihrer „Gnädigen“ und der kaschubischen Köchin exzellent ausgebildet, allseits gefördert und ermutigt, steigt Ella durch einen Kurs in Maschinenschreiben, Steno und Englisch in München schließlich durch Bildung und Leistung auf zur geschätzten Schreibkraft in Schloss Elmau. Hier kreuzen sich Ellas Wege neben vielen interessanten Personen mit denen des Gutsbesitzers Jakob Stein und Ilsabé, Gwens Großmutter. Als „die Gräfin“ Großmutter Ilsabé aus einem Altenheim in Chile anruft und ankündigt, mit Sack und Pack nach Europa zurückzukehren, stellt sich nicht zum ersten Mal die Frage, aus welchem Vermögen Ilsabé ihre Sperenzchen zahlen wird und wo Jakob Steins Gemälde und seine geliebten Fachaufsätze über Ägyptologie geblieben sind.

Ellas Briefe und Aufzeichnungen bilden in der Rahmenhandlung der Polenreise zunächst einzelne Puzzlestücke, die Elisabeth Sandmanns Leser:innen (mit Kenntnissen über den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus) früher zusammensetzen können als Gwen. Auch mit dem Wissen, dass Jakob Stein Jude war und zu seiner Zeit Schweigen oft Leben rettete, findet Gwen, dass in ihrer Familie zu stark um die Dinge herumgeredet wird. Welche Beziehung zwischen Lotte in Berlin, Ella aus Bayern und der Familie Stein bestand, entpuppt sich als kompliziertes Puzzle aus alten Verletzungen und enttäuschten Erwartungen in einer Epoche des Antisemitismus.

Fazit

Elisabeth Sandmann baut ihren Roman des 20. Jahrhunderts zwischen Berlin, Frankfurt, London, das Tölzer Land, den Gutshof in Pommern und Israel. Dass die hochsymbolischen Besitztümer, denen wir gemeinsam mit Gwen folgen (Gemälde, Schmuck, im Garten vergrabenes Silber, die Schuhe, die ein Mädchen aus armen Verhältnissen erst besitzen oder leihen muss, um sich überhaupt um eine Stelle zu bewerben) mit Korbinian Huber auf einen jungen Arzt mit Interesse an Psychoanalyse treffen, ist gewiss kein Zufall. Die Autorin hat mich durch ihre Empathie für Ella und ihr Umfeld beeindruckt (meine vor 1900 geborene Großmutter, die mit 13 Jahren in Dienst geschickt wurde, hätte zu diesem Romanteil beifällig genickt). Allerdings musste die arme Ella aus meiner Sicht im Zeitraffer die Bildung und den Emanzipationsprozess bewältigen, für den real zwei Frauengenerationen Zeit hatten. Ellas flotte intellektuelle Entwicklung wirken wie ihr Lebenslauf für ihre Epoche etwas zu märchenhaft. Dass in einem Roman der Familiengeheimnisse ein Stammbaum zu viel verraten würde, macht die Lektüre - der ebook-Ausgabe - zu einer herausfordernden Zeitreise.