Rezension

fesselnd und realitätsnah

Staat X - Carolin Wahl

Staat X
von Carolin Wahl

Bewertet mit 5 Sternen

„...Ist es nicht Sinn des Projekts? Andere Schüler kennenzulernen und sich außerhalb seiner Komfortzone zu bewegen?...“

 

Am Johannes-Gutenberg-Gymnasium beginnt eine ungewöhnliche Projektwoche. Die Vorbereitungszeit dafür hat zwei Jahre gedauert. Die Schüler gründen ihren eigenen Staat – Staat X. Nur wenige Lehrer sind als stille Beobachter in das Projekt involviert. In Staat X gibt es fünf Parteien, ein Parlament aus einer Kammer und eine Verfassung. Einer ihrer Artikel liest sich so:

 

„...Der Staat entspricht demokratischen und sozialen Grundsätzen...“

 

Diese Artikel finden sich kurz und bündig als eine Art Überschrift zu Beginn ausgewählter Kapitel. Jeder Schüler konnte sich mit eigenen Ideen einbringen. Mancher hat ein Cafè eröffnet. Es gibt eine Bibliothek und verschiedene Läden. Der erste Akt im neuen Staat ist es, den Präsidenten zu wählen.

Die Autorin hat einen fesselnden Jugendroman geschrieben. Die Geschichte hat mich sofort in ihren Bann gezogen. Gut gefallen hat mir unter anderen, dass die Geschichte abwechselnd aus der Sicht unterschiedlicher Protagonisten erzählt wird. Kapitel ohne Protagonist als Überschrift enthalten, wie oben schon formuliert, dafür einen Ausschnitt aus der Verfassung.

Gleich zu Beginn werden einige der Protagonisten näher vorgestellt. Adrian erlebt zu Hause die absolute Herrschaft des Vaters. Nicht nur, dass der keine Widerworte duldet und über die Zeit seiner Frau bestimmt, er erwartet auch von Adrian Spitzenleistungen und lässt ihn jede Unzulänglichkeit spüren. Nichts, was er tut, ist in den Augen des Vaters gut genug. In der Schule ist Adrian in seiner Clique derjenige, der sagt, wo es lang geht. Er zeigt keinerlei Schwäche. Deshalb hat er auch für den Posten des Präsidenten kandidiert. Doch er hat auch andere Seiten. Die klingen nur an wenigen Stellen an, so in einer Aussage von Felix, seinem Freund.

 

„...Du stehst immer für uns ein, Adrian. Du bist immer für uns da. Ich wollte einmal etwas zurückgeben...“

 

Ein ganz anderer Charakter ist Vincent. Nach dem Tode der Mutter steht zwischen ihm und seinem Vater eine Mauer. Beide haben es nicht geschafft, zusammen zu trauern. Jeder ging seinen Weg allein. Vincent hat die feinen Signale des Vaters – noch - nicht registriert.

Und dann wäre da Lara. Sie erscheint neu an der Schule, kurz bevor das Projekt beginnt. Sie möchte keine Außenseiterin sein, sondern eingebunden werden.

Der Schriftstil lässt sich angenehm lesen. Er ist auf die Zielgruppe zugeschnitten, ohne sich des üblichen Jugendslangs zu bedienen.

Sehr gut wird herausgearbeitet, wie unterschiedlich jeder der Protagonisten an das Projekt herangeht. Einige erfüllen mit Begeisterung und Engagement die Aufgabe, die sie sich gestellt haben, während andere nach Schlupflöchern suchen, um Regeln und Gebote umgehen zu können. Dass sie ohne Einmischung Erwachsener agieren können, öffnet sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht Freiräume. Wie reagieren die Staatsorgane auf Verstöße? Das ist eine entscheidende Frage für das Gelingen des Experiments Staat X.

Eines aber wird schnell deutlich. In Staat X kann keiner seine Vergangenheit ablegen. Beherrschende Charakterzüge, Freundschaften und Feindschaften wurden ganz einfach mitgebracht und beeinflussen das Staatsgefüge. Dazu passt das Eingangszitat, das von Lara stammt und an Vincent gerichtet ist, der anfangs mit seiner Aufgabe nicht glücklich ist. Interessant allerdings fand ich, wie sich der eine oder andere im Laufe des Geschehens weiterentwickelt hat. Gerade von den wichtigsten Protagonisten war am Ende keiner mehr der gleiche wie am Anfang.

Spannend fand ich die Diskussion zwischen Melina und Olga über den Umgang mit Büchern.

 

„...Gute Bücher müssen nicht aussehen, als hätten wir uns vor dem Lesen Handschuhe angezogen...“

 

Die Abwägung beider Seiten stellt meiner Meinung nach eine interessante Mischung da. Letztlich ging es um die Frage: Darf man einem Buch ansehen, dass es mehrmals gelesen wurde?

Die Diskussionen im Parlament kommen der Realität sehr nahe. Johanna klingt dabei so:

 

„...Dein Geschwätz ist so was von populistisch und unwahr, dass es schon echt traurig wäre, wenn die hier anwesenden Abgeordneten sich davon überzeugen ließen...“

 

Die Vielfalt des Buches und die vielen Feinheiten, die im Hintergrund des Geschehens laufen, aber das Ergebnis des Projekts entscheidend beeinflussen, hier weiter und tiefer zu analysieren, würde den Rahmen der Rezension sprengen.

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es bekommt von mir eine unbedingte Leseempfehlung. Ich könnte es mir auch als Schullektüre vorstellen.