Rezension

Fesselnde Familienbiografie - mit umfangreichem Exkurs zur Epigenetik

Im Schatten meines Großvaters -

Im Schatten meines Großvaters
von Angela Findlay

Bewertet mit 5 Sternen

Als Kunsthistorikerin und Kunstpädagogin arbeitet Angela Findlay seit Ende der 80er mit Strafgefangenen in verschiedenen Gefängnissen. Sie fühlt sich von ihren abgesicherten Veranstaltungsorten merkwürdig angezogen. Als sie erkennt, dass eine Biografie von Gewalt und Vernachlässigung nahezu alle Teilnehmer vereint und zwangsläufig zu Sucht und Kriminalität führte, muss sie sich mit ihrem Motiv auseinandersetzen, stellvertretend für ihre Schüler deren Lasten zu schultern. Diese Anregung öffnet ihr zugleich den Zugang zur Epigenetik (in Deutschland bekannt durch die Bücher Sabine Bodes), der These der Vererbung von Traumata auf die Kinder- und Enkelgeneration. Die Zusammenhänge sind zwar seit der Zeit des Vietnamkriegs bekannt und inzwischen erforscht, Angela Findlay konnte jedoch erst danach recherchieren, als ihr ein Zusammenhang zur eigenen Biografie bewusst wurde. Wissenschaft hinkt eben oft intuitiver Entdeckung von Zusammenhängen hinterher …

Angela Findlay als Kriegsenkelin wird an Schauplätze reisen, an denen sie sich ihrem Großvater Karl von Graffen (1893-1964) nahe fühlen kann, die gesammelten Briefe an seine Frau lesen und entdecken, dass es erheblich mehr Informationen über einen Generalleutnant der deutschen Wehrmacht und mehr Fotos von ihm gibt, als ihrer Familie bisher bekannt waren.

Bereits als Internats-Schülerin hatte Findlay rebelliert, sich gegen jegliche Unterdrückung auf dieser Welt engagiert und Probleme gehabt, bei denen in ihrem Umfeld alle Warnlampen hätten aufleuchten müssen. Unübersehbar war ihr schwieriges Verhältnis zur Mutter Jutta, deren Persönlichkeit sie bis weit in Erwachsenenalter nur schwer einordnen kann: In deren Biografie als Tochter eines deutschen Wehrmachtsgenerals, Flüchtling, in binationaler Ehe lebend - und in einer Kultur der „stiff upper lipp“, die den Nationalsozialismus in Form von Faschings-Uniformen verkitscht.

Bis zu diesem Punkt fand ich Angela Findlays Urteile über Mutter und Großvater sehr unreif und war ihrer Spurensuche gegenüber sehr skeptisch. Als Tochter eines Wehrmachtssoldaten bin ich mir allerdings meines Privilegs bewusst, in verschiedenen Lebensaltern wiederholt mit meinem Vater über Krieg und Gefangenschaft gesprochen zu haben. Angela Findlay als Tochter eines Kriegskindes hört von ihrem Großvater, den sie selbst nicht gekannt hat, nur durch den Filter der Erzählungen ihrer Mutter – deren sachliche Haltung zur Vergangenheit sie jedoch immer abgelehnt hat.

Das Thema der Vererbung von Traumata wird Findlay bis in die Gegenwart beschäftigen und sie wird es um Schuld und Versöhnung erweitern, indem sie unermüdlich recherchiert, ob Karl von Graffen Kriegsverbrechen nachzuweisen sind. Aus meiner Sicht schließt sich ein Kreis, als die Autorin ihre Rolle/Lebensaufgabe findet, eben die Rolle, die sie bei Mutter und Großvater anfangs nur schwer wahrnehmen konnte.

Besonders tragisch finde ich, dass das Schicksal von Juttas älterem Bruder Adolf (*1928) nur sehr kurz gestreift wird, der mit 15 Jahren als Flakschütze zum Volkssturm eingezogen wurde und nicht damit rechnen konnte, den Krieg zu überleben.

Fotos und Briefe sind beeindruckender Teil des Buches – als privilegiert empfinde ich hier Findlays Familie, deren Unterlagen nicht wie bei so vielen Zeitgenossen im Bombenhagel oder auf der Flucht verloren gingen.

Fazit
Angela Findlay recherchiert ihre ungewöhnliche Familiengeschichte, in der die Tochter eines deutschen Berufssoldaten und Weltkriegs-Generals einen britischen Marineoffizier heiratet und den Beginn ihrer Ehe im Army-Milieu verbringt. Ihre Familienbiografie lässt sich trotz umfangreicher Passagen über die Vererbung von Kriegstraumata flüssig lesen. Qualitäten des Buches sind Briefe und Fotos, die zum Glück passend zum Handlungsverlauf eingefügt sind und seine Fülle an deutschen und englischsprachigen Quellenangaben.