Rezension

Fiktives Leben einer historischen Person

Die längste Nacht - Otto De Kat

Die längste Nacht
von Otto de Kat

Bewertet mit 4 Sternen

Emma Verweij ist 96 Jahre alt und bereit zu sterben. In ihrem vertrauten Haus in Rotterdam wird sie von einer jungen Pflegerin betreut und wartet – auf „das Team“ und auf ihre Söhne, die auf dem Weg zu ihr sind. Emmas Gedanken schweifen zurück, überlagern sich in willkürlicher Reihenfolge. Ihre Weggefährten sind lange vor ihr gestorben. Zwei Lebensphasen kristallisieren sich heraus: Die Zeit um das Attentat auf Hitler im Juli 1944 in Berlin, als Emmas Mann Carl verhaftet und zum Tode verurteilt wird, und ihr Leben in Rotterdam mit ihrem zweiten Mann Bruno. Das Umfeld des Paars in der Gegenwart war geprägt von der Solidarität, die während des Krieges den Widerstand gegen die Nationalsozialisten trug. Symbolisiert wird die gemeinsame Geschichte der Bewohner durch die Dachluke in Brunos Haus, das einzige Haus, aus dem ein versteckter Widerstandskämpfer vor seinen Verfolgern über das Dach flüchten konnte. Aus Emmas mäandernden Gedanken tritt schließlich der Grund für ihr Warten in dieser Nacht heraus. Nach jahrelanger Ungewissheit, was damals mit dem Leichnam von Carl geschah, kann sie erst loslassen, wenn sie die Briefe von Clarita von Trott zu Solms an sich in guten Händen weiß und sie damit der Nachwelt erhalten hat.

Das Überlappen von Ereignissen, die jeweils 30, 60 und mehr Jahre zurückliegen, erfordert beim Lesen einige Aufmerksamkeit, wirkt andererseits jedoch sehr authentisch. Emmas Vater war Diplomat, ihre Mutter lebte in London und brannte für die Probleme Afrikas, Brunos Vater diente in der niederländischen Kolonialarmee in Sumatra, sein Bruder wanderte in den 30ern nach Südafrika aus – Emmas Familie war ständig in Bewegung, oft erzwungen durch die historischen Ereignisse.

„Die längste Nacht“ hat die Literaturkritik nicht gerade begeistert. Otto de Kat dichtet der historischen Person Christabel Bielenberg (1909 bis 2003) einen alternativen Lebenslauf in den Niederlanden in einer zweiten Ehe an. Man könnte sich hier fragen, ob die authentischen Erinnerungen seiner couragierten Protagonistin selbst nicht fesselnder zu lesen sein werden, die sich damals sehr bewusst war, einen Widerstandskämpfer zu heiraten. Als viertes Buch im Zusammenhang mit seinen Vorgängern (in chronologischer Reihenfolge) finde ich die Innensicht der betagten Protagonistin dennoch sehr fesselnd, die all ihre Weggefährten überlebt hat und nun den Tod erwartet.

Otto de Kats Clan Dudok/Verweij/Verschuur
Sehnsucht nach Kapstadt (2006) spielt 1935, Brunos Bruder Rob wandert nach Südafrika aus.
Julia (2010) spielt 1981, der Fabrikant Christian Dudok erinnert sich an Ereignisse 1938 in Lübeck.
Eine Tochter in Berlin (2014) spielt 1941, im Mittelpunkt Emmas Eltern Oscar und Kate und das Unternehmen Barbarossa.
Die längste Nacht (2015) spielt in der Gegenwart, Emma ist die historische Figur Christabel Bielenberg (1909 bis 2003), in zweiter Ehe mit dem Niederländer Bruno verheiratet. Der reale Peter Bielenberg (1911 bis 2001) war ein Freund von Adam von Trott zu Solz (1909 bis 1944), der wiederum war enger Mitarbeiter Stauffenbergs.