Rezension

Fragmente

Verschwörung in Wien - Karl May

Verschwörung in Wien
von Karl May

Bewertet mit 4.5 Sternen

In geheimer Mission ist der Wurzensepp in Wien unterwegs. Er verfolgt einen berüchtigten Einbrecher, der auch hinter dem Fex her ist. Dessen Verwandte wollen seine Anerkennung als Baron von Gulijan unbedingt verhindern. Auch Anton ist in Wien. Er hat sich als Sänger unter dem Namen Criquolini einen Namen gemacht – allerdings nicht nur im positiven Sinne. Sein ausschweifendes Leben ruiniert nicht nur seinen Ruf. Auch die Murenleni ist nach Wien gekommen, um ihre Ausbildung abzuschließen. So treffen die Freunde unverhofft in Wien aufeinander und es kommt zu wunderbaren und erschütternden Szenen.

Dieser Band soll den erzählerischen Teil der Gesammelten Werke abschließen und letzte Lücken füllen. Fragmente zu den Kolportageromanen und Varianten bzw. Entwürfe von Mays Humoresken und Dorfgeschichten sind hier mit erläuternden Texten zusammengefasst.

Das Buch lässt mich etwas gespalten zurück. Mays Texte sind gewohnt wundervoll und die Erläuterungen wirklich klasse – doch die Zerstückelung und gravierenden Eingriffe, die Mays Texte von Seiten des Verlags erfahren hat hinterlassen einen schalen Geschmack.

Das gesamte Zwischenspiel in Wien gehört zum Kolportageroman „Der Weg zum Glück“ und ist eine Schlüsselszene für viele weitere Entwicklungen. Die Wege von Anton und Murenleni trennen sich hier endgültig – in der Ausgabe des Karl May-Verlags wird ein Happy End erzwungen. Weitere Verwicklungen führen den Fex zu seinem großen Glück – in der Version dieses Verlags wurde auch sein Ende umgeschrieben, sodass auch diese Verwicklung neugeschrieben werden mussten.

Die Schlussszene von „Der verlorene Sohn“ ist hier separiert und mit anderen Namen versehen – wie weit der Verlag auch bei diesem Kolportageroman den Schluss geändert hat, kann ich nicht beurteilen. Die Erläuterungen erklären wann, wo, wer in das Werk eingegriffen hat und was er veränderte.

Ich bin doch etwas entsetzt wie Karl Mays Werk zerstückelt und umgestaltet wurde. Mir wird es für immer ein Rätsel bleiben, warum der Verlag sich zu derartig einschneidenden Eingriffen entschließen konnte. Würdiger wäre es gewesen, das Werk in seiner Originalversion herauszubringen und diese dann um Erläuterungen und Variationen, ob von May oder anderer Hand (hier dann mit Erläuterung zur Intention), zu ergänzen. Denn ob es nun ein Rätsel ist, wer wie weitreichend im Kolportageroman gewütet hat oder ob ein Dr. Euchar Albrecht Schmid, Otto Eicke, Franz Kandolf oder Hans Wollschläger mit teilweise recht fragwürdiger Motivation extrem umschreiben, ist doch am Ende egal. In der Originalversion findet der interessierte Leser allerdings eine in sich geschlossene und konsistente, spannende Geschichte vor. So wie jetzt Fragmente und Umarbeitungen erläutert werden, hätte auch hier ein erklärender Abschnitt eingefügt werden können. Der ganze Streit um Mays Werk, was von ihm war, was er verleugnete, was er am Ende seines Lebens ändern wollte, was sein betrügerischer Verleger, seine verleumderischen Hetzer, seine suspekte zweite Frau hinterher draus machen wollten und wie die Nazis Mays Werk instrumentalisieren wollten – kaum ein Autor dürfte so penibel durchforscht, gewendet, interpretiert, durchleuchtet und auf jede kleinste Bedeutungsnuance seines schriftlichen Werks abgeklopft worden sein. Nun stellt sich für mich aber noch eine Frage: Warum bringt ein Verlag, der sich ganz und gar dem Autor verschrieben hat und mit den namhaftesten Wissenschaftlern und einer riesigen Fan-Gemeinde den Nachlass zugänglich macht, die Bücher in einem solch unwürdigen Zustand heraus? Historisch kritisch wäre die einzig richtige Version für einen derartig gut kommentierten und immer noch umstrittenen Autor. Selbst wenn das zu kostspielig wäre, eine abgespeckte Version für den nur am erzählerischen Konsens interessierten Leser, wäre ebenfalls möglich gewesen. Aber zerstückelt, verfälscht und dann fast halbherzig um erklärende Fragmente ergänzt, das ist eines Karl-May-Verlags einfach unwürdig! Das sei nicht möglich? Es gab in den 50ern eine historisch-kritische Ausgabe, die heute nur noch für viel Geld zu erhalten ist. Der Weltbild Verlag hat vor ein paar Jahren bewiesen, dass es immer noch möglich ist, die Geschichten in einer kommentierten Originalversion herauszubringen, sogar illustriert und erschwinglich. Es ist also möglich und ich finde es wird Zeit, dass sich auch der Verlag, der den Namen des Autors trägt seine Ausgabe überarbeitet.

Wer Karl Mays Kolportageromane kennenlernen will, dem lege ich die Weltbild-Ausgabe ans Herz. Sie ist unbearbeitet und ungekürzt sowie kommentiert und illustriert. Hier stehen die Geschichten in all ihrer Schönheit und ausschweifender Abenteuerlust vor einem auf. Sie haben die Schwäche von Kolportageromanen? Herzlichen Glückwunsch: es ist ein Kolportageroman! Doch sie sind spannend, bunt und einfach ein phantastisches Erlebnis!

Das Buch „Verschwörung in Wien“ bekommt von mir trotz meiner ausführlichen Kritik 4 ½ Sterne. Karl Mays Texte haben die gewohnte Qualität – die Szene in Wien ist fast in sich geschlossen, sodass sie auch für sich alleine spannende Lesestunden bietet – und die erläuternden Abschnitte offenbaren viel über den Weg, den das Werk Karl Mays im Laufe der letzten Jahrzehnte durch den Verlag genommen hat.

Halber Stern Abzug für die erschütternde Zerstückelung der großartigen Geschichten.

Eine Leseempfehlung für alle, die Näheres zu Mays Werk wissen wollen. Für das Erlebnis seine ersten Abenteuerromane kennenzulernen und die ersten Variationen seiner typischen Handlungsabläufe und Figurenkonzeptionen zu entdecken, empfehle ich die Weltbild-Ausgabe oder tredition.