Rezension

Frauenbilder Indiens...

Mai -

Mai
von Geetanjali Shree

Bewertet mit 4 Sternen

Frauenbilder Indiens zwischen Tradition und Moderne - anstrengend und interessant zugleich, misogyne Einstellungen halten sich hartnäckig...

Während Sunaina mit ihrem Bruder durch den Guavenhain streift und auf Mangobäume klettert, ist ihre Mutter Mai stets zu Hause. Unter den Argusaugen ihrer Schwiegermutter stampft sie Linsen, röstet Papadam, backt Chapati. Still umsorgt sie die ganze Familie, fast unsichtbar hinter den Mauern des großen Anwesens. Als Sunaina und ihr Bruder älter werden, lehnen sie sich gegen die starren Regeln der Familie auf und setzen sich ein gemeinsames Ziel: Mai aus ihrer so eng scheinenden Welt zu befreien. Erst spät bemerken sie allerdings, dass Mais Welt eine ganz andere ist, als sie glauben. (Klappentext)

Die Booker-Preisträgerin Geetanjali Shree porträtiert in diesem Roman drei Generationen einer gutsituierten indischen Familie, wobei die Tochter diejenige ist, aus deren Ich-Perspektive in Rückblenden erzählt wird. Im Zentrum der Erzählung steht Mai, die Mutter der Erzählerin, und die Zeitspanne des Romans umfasst Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter von Sunaina und ihrem Bruder. 

Die Familie lebt in einem großzügigen Anwesen und hat eine kleine Dienerschaft, die ihr zur Hand geht. Dennoch verrichtet Mai viele der Aufgaben innerhalb des Hauses, still und unaufdringlich, versucht nicht aufzufallen und jeden Wunsch der anderen zu erfüllen. Dabei erträgt sie geduldig und schweigend die vielen ungerechten Behandlungen von Seiten ihrer Schwiegereltern, v.a. der Schwiegermutter. Die lässt keine Gelegenheit verstreichen, ihrer Schwiegertochter deutlich zu machen, wie unzulänglich und unzumutbar sie im Grunde ist. Dabei entwickeln die Kinder schon früh das Gefühl, Mai vor den anderen beschützen zu müssen - denn diese lässt einfach alles mit sich geschehen.

Lt. Nachwort umfasst der Debütroman der späteren Booker-Preisträgerin die 60er bis 80er Jahre des vorherigen Jahrhunderts. Vieleicht eine Zeit des großen Umbruchs hinsichtlich des Frauenbilds in der indischen Gesellschaft - zumindest ließ sich das traditionelle Frauenbild (duldsam, unsichtbar, dienend) offenbar nicht länger aufrechthalten. Die drei Generationen der im Roman vorgestellten Familie stehen für diese Veränderungen. Während Mais dominante Schwiegereltern noch vollkommen die traditionelle Sichtweise verkörpern und Mai dies klaglos hinnimmt, sorgt die Mutter gleichzeitig auf ihre ganz eigene Art dafür, dass das Leben für ihre Kinder - und damit eben auch und gerade für ihre Tochter Sunaina - andere Möglichkeiten bereithält.

 

"Alle waren ständig besorgt. Nur Mai schien es nicht zu kümmern, was ich tat und wo ich war. Alle waren darauf aus, mich hinter dem 'echten Parda' festzuhalten, nur Mai schob wie aus Versehen den Vorhang beiseite, bevor er gänzlich zugezogen werden konnte. (...) dann wurde die Glut, die hinter dem Parda glomm, gerade dadurch, dass das ständige Schwenken des Vorhangs ihm Luft zufächelte, voll entfacht und ließ ihn selbst in Flammen aufgehen." (S. 58)         

 

Für Sunaina und ihren Bruder ist schon früh klar, dass sie raus wollen aus der Enge, mehr wollen als familiäre Erwartungen zu erfüllen, sich selbst finden wollen. Individualität statt Rollenerwartungen, kein einfaches Unterfangen. Und die Kinder wollen Mai befreien, die mit ihrem gekrümmten Rücken geradezu ein Sinnbild für die dienende Haltung allen gegenüber ist. Mai, die stets hinter ihrem Parda lebt - einerseits nur im Haus und stets hinter ihrem Sari, der ihren kompletten Körper sowie Teile ihres Gesichts verbergen soll, andererseits aber auch sinnbildlich, indem sie sich jedwelche Reaktion untersagt, um ihre vollkommene Unterwürfigkeit zu demonstrieren. 

Doch Mai lässt sich nicht einfach retten. Sie schweigt demgegenüber genauso wie sonst auch. Und bringt ihre Kinder damit zur Verzweiflung, die meinen zu wissen, was für ihre Mutter gut ist und was nicht. Und damit genauso übergriffig denken und handeln wie alle anderen auch, was ihnen aber erst später bewusst wird. Genauso wie die Tatsache, dass sie die Person hinter dem Parda nie wirklich kennengelernt haben, sondern nur das, was an Zuschreibungen da war.

 

"Ein armes Ding, harmlos, schwach, niedergeschlagen, das sich selbst von allem Eigenständigen entleert hatte und vollkommen offen geworden war, sodass andere in sie hineinfüllen konnten, was ihnen passte. (...) Wir hielten das für Mutterliebe und haben aus einem leeren Gehäuse eine Göttin gemacht." (S. 162)

 

Die durchaus vorhandene Stärke hinter der Demut, die Fähigkeit wichtige Dinge auf ihre ganz eigene stille Weise zu regeln, das alles nehmen die Kinder kaum wahr. Alles wird aus ihrer individuellen Sichtweise heraus beurteilt - eine perspektivengebundene Wahrheit, die Mai allerdings nicht gerecht wird. Schlussendlich merkt jedoch auch Sunaina, dass es nicht so leicht ist, sich Traditionen entgegenzustemmen, die Wurzeln zu ignorieren, der misogynen Haltung der Gesellschaft zu trotzen. Das Frauenbild, das Mai verkörpert, ist ein überliefertes, und es lebt auch in Sunaina weiter, irgendwie. Sie wird lernen müssen, mit dem Spagat zu leben... 

Der Roman liest sich flüssig, wobei die zeitlichen Sprünge manchmal etwas herausfordernd sind. Die Erzählung bietet interessante Einblicke in die gesellschaftliche Entwicklung Indiens, hier v.a. in Familiensysteme im Spagat zwischen Tradition und Moderne. Im Fokus steht dabei das sich wandelnde Frauenbild - der Mutter-Tochter-Konflikt trägt zur Verdeutlichung bei. Etwas nervig fand ich die redundante Wiederholung der Aussage, Mai retten zu wollen - spätestens nach dem dritten Mal sollte das Anliegen jedem klar geworden sein.

Alles in allem ein anstrengendes aber doch auch sehr interessantes Leseerlebnis, das mich neugierig macht auf weitere Werke der Autorin.

 

© Parden