Rezension

Gefälligkeiten

Das Mädchen, das man ruft -

Das Mädchen, das man ruft
von Tanguy Viel

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die bildhübsche Laura, die schon mit sechszehn vor der Schule für Modelshootings angesprochen wurd, lernt schnell das schmutzige Geschäft mit den gut aussehenden, aber unerfahrenen Frauen kennen und lässt mehr von ihrem Körper sehen, als ihr lieb ist.

Der Ausweg scheint der Rückzug in ihre Heimatstadt zu ihrem Vater zu sein. Laura und ihre Mutter verließen ihn vor Jahren, doch jetzt soll er seiner erwachsenen Tochter helfen. Der Vater war ein erfolgreicher Boxer, doch nach der Trennung von seiner Frau, stürzte er regelrecht ab und ist nun des Bürgermeisters Chauffeur. Diesen bittet er nun um Hilfe bei der Wohnungssuche für seine Tochter. Der Bürgermeister, erkennt seine Chance und lässt Laura in seinem Büro antreten. Sie ist immer noch so hübsch wie auf den Plakaten, die ihr natürlich auch in diese Stadt vorausgeeilt sind.
Anstatt beim Wohnungsamt ein gutes Wort für sie einzulegen, verschafft er ihr ein Zimmer im örtlichen Casino, dessen Besitzer ihm auch noch einen Gefallen schuldig ist und außerdem der Exmanager von Lauras Vater war, als dieser noch eine geldsprudelnde Boxerkarriere versprach.

Dieser Filz lässt nichts Gutes ahnen und tatsächlich soll Laura bald für die ihr erwiesenen Gefälligkeiten bezahlen. Laura glaubt ein Stück vom großen Kuchen abbekommen zu können, wenn sie nur lange genug still hält. Diese Annahme versucht sie auch den beiden Kriminalbeamten zu verdeutlichen, als sie schließlich doch Anzeige gegen den inzwischen zum Minister in Paris aufgestiegnenen, einstigen Gönner/Gauner aus der Kleinstadt erstattet.

Mit der Perspektive aus dem Polizeirevier, Lauras rückblickende Schilderung der Ereignisse und den gedanklichen Abschweifungen der vernehmenden Polizisten versetzt Tanguy Viel den Leser auf den Richterstuhl. Was soll man von Laura halten, die es doch eigentlich darauf angelegt hat und sich Vorteile verschafft hat? War der Vater naiv, oder hat er mit Absicht die Augen verschlossen? Kann man irgendeinem Mann einen Vorwurf machen, wenn Frau sich ohne Worte fügt?

Die Figuren bleiben distanziert und das personale Umfeld wird ausgeblendet (Was ist mit Lauras Mutter, oder Freundinnen?). Die Geschichte fokussiert sich allein auf das System des Machtmissbrauchs. Dieses aber wird in blumigen Schachtelsätzen gebettet und entfaltet mitunter in eine wunderbare bildhafte Sprache. Allein dafür mochte ich den Roman gerne lesen, obwohl er keine Hoffnung auf Gerechtigkeit und kein Happy End bietet. Die offenen Fragen sollen keine Lösung anbieten, sie sollen nur den Blick offenhalten für Systemfehler, wie sie überall zu finden sind.