Rezension

Gemischter Eindruck

Die Flüchtigen -

Die Flüchtigen
von Alain Damasio

Tolle Geschichte mit langatmigen Sequenzen

Das Buch wird auffallen: nicht nur weil es mit knapp 850 Seiten sehr dick ist sondern auch, weil es ein sehr schönes Cover hat. Ein Kolibri vor grauen Kreisen; Autor und Titel in leuchtendem Orange. Im übrigen ist das Buch ein toller Klangkörper; ich kann ihm verschiedenste Laute entlocken:)

Frankreich im Jahr 2040. Tishka, die kleine Tochter von Lorca und Sahar Varese ist eines Nachts einfach verschwunden. Das Paar hat sich in der Folge über den unterschiedlichen Umgang mit Trauer und Hoffnung von einander entfremdet und getrennt. In der dystopisch beschriebenen Zukunft führen soziale Unterschiede dazu, dass z.B. nicht jeder Straßen und Plätze nutzen kann, sondern die Größe des Portemonnaies Nutzungsrechte ermöglicht.
Es ist eine Art Polizeistaat und die Eheleute befinden sich im Widerstand; jeder auf seine Art.
Lorca lässt sich zum Jäger ausbilden. Er glaubt an die Existenz der sogenannten Flüchtigen und vermutet seine Tochter in deren Händen bzw. Nähe. In seiner Funktion als Jäger lernt er alles Wissen kennen, welches der Staat über die Flüchtigen hat und dieses Wissen will er nutzen, seine Tochter zu finden.
Er wird mit seiner Vermutung Recht behalten. Wir lernen im Laufe der Geschichte die Flüchtigen kennen: ihre Gestalt, Wege mit ihnen zu kommunizieren, ihre außerordentlichen Fähigkeiten und ihre Möglichkeiten 'Besitz' vom Menschen zu ergreifen.
Eine zentrale Rolle spielen Geräusche und Musik. Flüchtige können sie kopieren und zur Kommunikation nutzen. Der Autor ist Musiker, der Durchschnittsleser nicht. Man erhält eine Art Crashkurs in Musiktheorie.

Ich hatte Respekt vor dem Buch und es zeigte sich: zu Recht! Am Anfang bin ich überhaupt nicht in die Geschichte reingekommen und hab mich durch die ersten Kapitel gequält. Hab' mich rein finden müssen in die Art und Weise des Schreibens und den Umgang mit Satzzeichen, der ganzen Semantik.
Mitten drin hat mich die Geschichte dann gepackt; sie ist einfach zu gut und zu interessant aufbereitet, als dass sie einen kalt lassen könnte.
Zum Ende flachte meine Aufmerksamkeit wieder ab, zu ausufernd sind kriegerische Szenen.
Dieses Buch will viel und kann nicht alles erreichen. Das liegt auch daran,  dass der Autor sehr daran interessiert ist, Inhalte
'intellektuell' zu transportieren.
Es ist definitiv ein Buch, welches gemeinsam mit anderen gelesen werden sollte. Es passiert viel und gerade am Anfang der Geschichte sind Vermutungen und Interpretationen anderer sehr interessant.
Unerwartet hat das Buch meine Wahrnehmung verändert. Ich achte seit dem Lesen auf Geräusche in meiner Umgebung: was höre ich, wenn ich beim Autofahrern den Kopf leicht drehe? Wie klingt das Buch in meinen Händen. Ich achte auf schnelle Bewegungen im Augenrand, z.B. wenn Vögel beim Spaziergang davonstieben.
Abschließend sind die Stärken des Buches der interessante Plot, der Umgang mit Buchstaben und Satzzeichen, die Liebe zu Geräuschen und Musik und der tolle Einband. Die Schwächen liegen für mich in der phasenweisen Langatmigkeit, den Kampfszenen, der ausufernden Geschichte und dem für mich offenen Ende. Es ist nicht mein Lieblingsbuch des Jahres. Da die Vorzüge überwiegen, werden es 4 Sterne.