Rezension

Gnadenlose Schwester

Grotesk
von Natsuo Kirino

Bewertet mit 4 Sternen

In Tokio sind kurz nacheinander die Leichen von zwei älteren Prostituierten gefunden worden. Aus Tagebüchern und Erinnerungen blättert die Ich-Erzählerin des Romans die Schicksale der beiden Frauen und des der Tat verdächtigen Mannes auf. Die Erzählerin in Natsuo Krinos Roman ist Tochter einer japanischen Mutter und eines Vaters, der aus der Schweiz stammt. Seit ihrer Kindheit hat die Ältere, die zum Zeitpunkt der Morde ihre besten Jahre hinter sich hat, stets im Schatten ihrer gutaussehenden jüngeren Schwester gestanden. Wie besessen ist die Frau mit ihrem Aussehen beschäftigt und verliert sich in Tagträumen darin, wie ihre eigenen Kinder einmal aussehen könnten. In ihrer Obsession behauptet sie sogar, der Mann ihrer Mutter sei nicht ihr Vater. Ihr starres Beharren darauf, dass sie als berufstätige unverheiratete Frau ein freies Leben führt, sich der Masse der japanischen Frauen weit überlegen fühlt, kann nicht über ihre Verbitterung hinwegtäuschen. Die Erzählerin müsste sich eingestehen, dass sie trotz ihres Abschlusses an einer Elite-Schule einer wenig befriedigenden Berufstätigkeit nachgeht. In Rückblenden erfahren wir, dass Juriko Hirata, eine der Ermordeten, die jüngere Schwester der Erzählerin ist. Die andere Tote ist Kazue, mit der die Schwestern gemeinsam zur Schule gegangen sind. Ein illegaler Einwanderer aus China steht wegen der Morde vor Gericht. Wie sein Weg den der beiden Frauen kreuzte, hofft man aus den Tagebuchaufzeichnungen Jurikos und Kazues, aus dem schriftlichen Geständnis des Verdächtigungen oder von der Erzählerin zu erfahren.

Obwohl ihr Vater, dessen Geschäfte in Japan wenig erfolgreich waren, seinen Töchtern keine kostspielige Ausbildung finanzieren kann, erringt die Erzählerin durch erstklassige Leistungen einen Platz an einer Elite-Schule. Im gnadenlosen Rolltreppen-System des japanischen Schulsystems (vom Elite-Kindergarten direkt in die kostspielige private Grundschule und von dort weiter zum Elite-Gymnasium) sind alle Schüler ständigem Anpassungs- und Leistungs-Druck ausgesetzt. Selbst Kinderfreundschaften werden von den Eltern nach gesellschaftlicher Nützlichkeit bewertet und gesteuert. An der Schule gibt eine Elite von Schülerinnen aus besseren Kreisen den Ton an. Nicht Leistung wird zum Erfolg führen, sondern Beziehungen, die in bestimmten Zirkeln geknüpft werden, zum Beispiel unter den Cheerleaders. Der Zugang zu diesen Zirkeln ist aufgrund der hohen Kosten nur wenigen Schülerinnen möglich. Die Stipendiatinnen, die aus einfachen Verhältnissen stammen, sind hier unerwünscht; sie werden an der Schule nach Kräften gemobbt. Eine besondere Rolle im fein austarierten Machtgefüge nimmt Kazue ein. Die Tochter eines Fischers, der sich zum erfolgreichen Geschäftsmann hocharbeitete, ist in der elitären Kaderschmiede nicht vorgesehen, obwohl die Familie sich längst als wohlhabend betrachtet. Kazue lässt sich bewusst von den Mitschülerinnen ausbeuten, um auf diesem Weg ihre Karriere-Ziele erreichen.

Die jüngere Juriko hat einige Zeit mit den Eltern in der Schweiz gelebt und wird bei ihrer Rückkehr mit einem Bonus für Auslands-Schülerinnen an der Schule ihrer Schwester zugelassen. Die erbitterte Eifersucht auf die gutaussehende Schwester bricht erneut auf, von der die Ältere seit Kindertagen zermürbt wird. Dass Juriko sich in ihren Lehrer Kijima verliebt, Kazue in Takashi, den Sohn Kijimas, gibt der komplizierten Beziehung der drei Schülerinnen den Rest.

Als Erwachsene wird Kazue trotz ihres Universitäts-Abschlusses keinen Erfolg im Beruf haben und im Büro täglich der Verachtung ihrer männlichen Kollegen ausgesetzt sein. Inzwischen fast 40 Jahre alt, muss die ehemalige Eliteschülerin sich eingestehen, dass in der Arbeitswelt Japans nicht Leistung zählt, sondern Herkunft. Kazue erträgt ihr Leben, indem sie abends in eine Rolle als Call-Girl schlüpft. Der Wunsch bald genug Geld zu haben, um nicht mehr arbeiten zu müssen, treibt sie voran.

Die Rolle der Erzählerin aus dem Hintergrund hat mich in Grotesk am stärksten fasziniert. In keinem Moment lässt sie durchblicken, dass sie sich nach dem Tod ihrer Schwester mit der gemeinsamen Kindheit ausgesöhnt hat, sie zeigt keine Reue oder Trauer. Die Ältere hat als Erzählerin alle Fäden in der Hand, sie entscheidet, welches Bild von Kazue, Juriko und dem der Tat verdächtigten Zhang sie dem Leser vermitteln will. Aufzeichnungen und eigene Erinnerungen der Erzählerin überschneiden sich, widersprechen sich in manchen Punkten. Dass sie das Tagebuch ihrer Schwester sorgfältig kopiert hat, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die einzige Überlebende der drei Eliteschülerinnen ihren Lesern ihr sehr persönliches Bild der beiden Ermordeten aufdrängen möchte.

Für Juriko, Kazue und die Erzählerin hat sich Leistung nicht gelohnt, es gibt keinen Platz für sie in der Welt der Salaryman. Kirino verarbeitet in ihren Büchern vermutlich eigene negative Erfahrungen, die sie in der noch immer von Männern dominierten Berufswelt Japans gemacht hat. Am Beispiel der drei Schülerinnen seziert sie gnadenlos, wie bereits in "Die Umarmung des Todes", das japanische Gesellschafts-System. Am Beispiel von Aussenseitern, die in der strengen Hierarchie keinen Platz finden, betreibt die Autorin in Grotesk kompromissloses Japan-Bashing. Auch wenn Kirino als Ausgangspunkt für ihr sozialkritisches Buch zwei Todesfälle wählt, ist Grotesk m. A. kein Kriminalroman. Gegenüber der Rückschau auf die Verletzungen der Vergangenheit spielt die Aufklärung der Todesfälle nur eine Nebenrolle für die Handlung. Mit einige Längen und der schonungslosen Darstellung der Frauenschicksale war der Roman keine einfache Lektüre, er hat mich dennoch stark beeindruckt.