Rezension

GRANDIOS...!!!

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne -

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
von Sasa Stanisic

Irgendetwas Außergewöhnliches muss an diesem Kerl doch dran sein, dass er mit Preisen nur so überschüttet und von Kritiker*innen und Leser*innen (Ein äußerst seltener Fall!) frenetisch bejubelt wird. Selbst ein Denis Scheck vollführt während eines Interviews zu seiner Sendung DRUCKFRISCH vor ihm einen verbalen Kniefall. „Okay“, dachte ich mir „dann reicht mir doch mal sein neustes Werk rüber – mit diesem ellenlangen Titel, der kaum fehlerfrei ausgesprochen werden kann.“ Meine eh schon faltige Stirn legte sich voller Skepsis in zusätzliche Falten: „Will ich doch selbst mal sehen, was an diesem Kerl dran ist. So leicht lasse ich mich nicht überzeugen…!“,…

…und schon mit der ersten Geschichte hatte er mich am Haken.

Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt? Und dann ist da trotzdem die Furcht, feige gewesen zu sein, zu lange gezögert und etwas verpasst zu haben, ein besseres Ich, ein größeres Glück, die lustigeren Haustiere und Partner. Sasa Stanisic führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen. So wie die Reinigungskraft, die beschließt, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist. Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.

 (Inhaltsangabe der Homepage des Verlages entnommen!)

12 wunderbare, feine Erzählungen sind in diesem Buch versammelt: Erzählungen, wo durchaus jede für sich stehen kann aber in der Kombination miteinander, in der Gemeinschaft aller Geschichten zueinander eine wundersame Wirkung offenbaren. Staunend nahm ich Anteil an den Leben so unterschiedlicher wie vielschichtiger Persönlichkeiten, bzw. ich durfte sie für wenige Augenblicke, für einige Momente, fragmentarisch in ihrem Leben begleiten.

Schon die erste Geschichte katapultierte mich mitten hinein in Stanišićs Universum, ins „Stanišićum“: Ich machte die Bekanntschaft mit diesen halbstarken Rotznasen (zu denen auch der Autor höchstpersönlich gehörte), die sich nur allzu gerne in ihrem Viertel auf Spielplätzen oder – in diesem Fall – im Weinberg herumtreiben und harmlosen Blödsinn verzapfen. Da kommen sie doch im pubertären Überschwang auf die kuriose Idee, einen Probenraum für das Leben zu entwickeln, in dem man 10 Minuten aus der Zukunft anprobieren könnte. Klingt verrückt, mag man meinen. Doch diese Idee wird mit so viel jugendlichem Elan vorgebracht und besitzt eine solche philosophische Klarheit, dass ich bei mir dachte „Ja, klar, genau so etwas brauchen wir!“.

In der zweiten Geschichte bleibt für eine ausländische Reinigungskraft (zufällig die Mutter einer unserer Protagonisten aus der ersten Geschichte) die Zeit plötzlich stehen und schenkt ihr die einzigartige Gelegenheit, einen unverstellten Blick auf ihr Leben zu werfen, um dieses dann endlich in die eigenen Hände nehmen zu können. In einer anderen Geschichte mutiert die Nordseeinsel Helgoland zum Sehnsuchtsort des Autors, die Erinnerungen nach Begegnungen und Situationen bei ihm heraufbeschwört, die so nie passiert sein können (…oder vielleicht doch?).

Über allen thront herrschaftlich die titelgebende Geschichte dieses Buches, die so warmherzig und lebensbejahend daherkommt und mir während der Lektüre vehement ins Ohr flüsterte „Es ist nie zu spät, eine Veränderung zu wagen! Du musst dich nur trauen!“. Und bevor ich mich versah, schaute ich am Ende des Buches kurz nochmals bei den halbstarken Rotznasen vorbei und stelle mir die Frage „Welche Rolle spielt hierbei eigentlich Heinrich Heine?“.

Im „Stanišićum“ wirkt alles irgendwie real, als könnte es genau so passiert sein. Doch gleichzeitig erscheint jede Geschichte mit einem Hauch Illusion überpudert, der die Grenze zwischen Träumerei und Wirklichkeit verschmelzen lässt. Mit einer unwiderstehlichen Kombination aus Humor und Wehmut lässt der Autor seine Erzählungen aneinander andocken wie Puzzle-Teile, um so Stück für Stück ein Bild in seiner Gesamtheit entstehen zu lassen.

So sehr ich es bedaure, dass der Autor seine ursprüngliche Heimat verlassen musste, so sehr freut es mich, dass uns dadurch ein wundervoller Poet geschenkt wurde.