Rezension

Großartiger, hochdramatischer Roman mit starken Protagonistinnen

Vardo - Nach dem Sturm - Kiran Millwood Hargrave

Vardo - Nach dem Sturm
von Kiran Millwood Hargrave

Hexenjagd

Nachdem der englische Schriftstellerin Kiran Millwood Hargrave mit ihren außergewöhnlichen Kinder- und Young Adult-Büchern bereits der Sprung auf die Bestsellerlisten gelang, hat sie nun mit Vardø - Nach dem Sturm ihren ersten Roman in der Erwachsenen-Belletristik veröffentlicht, der von den Kritikern der renommiertesten Zeitungen hervorragend rezensiert wurde. Dieser Meinung kann ich mich nur vollumfänglich anschließen, denn die bewegende Story, eine Mischung aus Facts & Fiction, ist meisterhaft geschrieben und fesselnd bis zum hochdramatischen Ende. Was also macht die Geschichte so aufwühlend, dass man sich nur schwer von ihr lösen kann und auch nach Lektüre noch darüber nachdenkt?

Zum einen ist es sicherlich die düstere Epoche des 17. Jahrhunderts, als Hexenjagden an der Tagesordnung waren. Hier rückten insbesondere kräuterkundige, pragmatische Frauen in den Fokus, deren magische Kräfte das Patriarchat, d.h. Politik und Kirche, fürchtete und ihnen deshalb als Teufelsanbeterinnen den Prozess machte. Zum anderen sind es die Protagonistinnen des Romans, Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, die - nach einer schlimmen Tragödie - der Wunsch nach Unabhängigkeit und einem selbstbestimmten Leben eint. Doch dies kommt in der damaligen Zeit einer Verfehlung gegen Gott gleich, die nicht ungesühnt bleiben darf. Die Einzelschicksale der mutigen Frauen gehen zu Herzen, denn die Autorin macht ihr Leid und ihre Verzweiflung so intensiv spürbar, dass es den Lesern den Atem nimmt.

Eine schreckliche Katastrophe

Als 1617 ein schrecklicher Sturm über die entlegene norwegische Insel Vardø hereinbricht, kommen 40 Fischer ums Leben. Eine Tragödie für die zurückgebliebenen Frauen, die ihre Ehemänner und Brüder bei dem fürchterlichen Unglück verloren haben und nun völlig auf sich allein gestellt sind. Zu ihnen zählt auch Maren, die mit ihrer Mutter und ihrer schwangeren Schwägerin Diina vor den Scherben ihrer Existenz steht. Es herrscht völlige Lethargie, die sich nach Bergung der vielen Leichen in maßlose Trauer verwandelt. Man sucht Trost in der Kirche, denn niemand weiß, wie es weitergehen soll, jetzt wo die Ernährer der Familien tot sind.

Zurück ins Leben

Nach anfänglicher Schockstarre versuchen die Frauen, sich so gut es geht zu organisieren. Hier ist es insbesondere Kirsten, die viele mit ihrer Tatkraft und Stärke mitreißt. Sie hält nicht nur ihren Haushalt stoisch aufrecht, sondern hat von ihrem Mann auch sehr viele Dinge übers Schlachten und den Fischfang gelernt. Kirsten versucht, den Frauen klarzumachen, dass es wichtig ist, auf eigenen Beinen zu stehen. Maren und einige andere schließen sich ihr an und wagen es sogar, mit den Booten ihrer Männer auf Fischfang zu gehen, von dem sie mit stolzer Beute zurückkehren. Doch ihr wachsender Erfolg stößt nicht bei allen auf Akzeptanz: Inbesondere den Kirchendamen unter Anführerin Toril ist dieses Verhalten ein Dorn im Auge, da es ihres Erachtens gegen die von Gott angedachte Stellung der Frau verstößt. Kirsten und die anderen lassen sich jedoch nicht beirren und freuen sich über jeden Fortschritt, den sie gemeinsam erzielen.

Das Ende der Freiheit

Aber ihre Freiheit währt nicht lange. Absalom Cornet, Gesandter des Lensmannes Cunningham und schottischer Hexenjäger, soll die natürliche Ordnung auf Vardø wieder herstellen und "das Weibervolk, das sich selbst überlassen wurde"1 zur Raison rufen. Begleitet wird er dabei von Gattin Ursa, die mit ihm auf Wunsch ihres Vaters zwangsverheiratet wurde. Cornet verliert keine Zeit und beginnt unverzüglich mit seinem gnadenlosen Feldzug gegen die nicht-konformen Frauen: Wer nicht in die Kirche geht, ist verdächtig. Wer, wie Marens Schwägerin Diina, eine Lappin ist und andere Gebräuche und Sitten hat, steht ganz oben auf seiner schwarzen Liste. Aber weder Diina noch Kirsten, die aufgrund ihrer Eigenständigkeit ebenfalls in Cornets Visier gerät, lassen sich etwas sagen.

Die scheue Maren freundet sich unterdessen mit Ursa an und hilft ihr, ihren Haushalt auf der kargen Insel zu bewältigen. Sie nimmt sie mit zu den regelmäßigen Frauentreffen, wo sie von den Einheimischen misstrauisch beäugt wird. Maren erkennt schnell, wie sehr sich Ursa vor ihrem Mann fürchtet, doch sie hält sich zurück, weil Cornet ihr ebenfalls Angst einjagt. Maren und Ursa werden unzertrennlich und verbringen mehr und mehr Zeit miteinander - sehr zum Unverständnis und Mißfallen einiger Inselbewohnerinnen.

Tödlicher Abgesang

Als eine Frau von Cornet schließlich wegen Hexerei verhaftet wird, gerät die Inselgemeinschaft in Aufruhr. Dies trifft jedoch nicht auf Toril und die restlichen Kirchdamen zu, die mit großer Genugtuung zusehen, wie die in ihren Augen schändliche Hexe ihrer gerechten Strafe zugeführt wird. Entsetzen und Panik machen sich breit, und jeder beobachtet jeden: Denunzieren heißt das Zauberwort, um bloß nicht selbst an den Pranger gestellt zu werden. Ursa versucht mit allen Mitteln, Maren zu schützen, die wiederum große Angst um Kirsten und Diinna hat. Als Kirsten verhaftet wird, weiß Maren, dass es nur einen Ausweg geben kann, um dieser Hölle zu entkommen - auch wenn sie dafür den höchsten Preis zahlen muss...

Mit Vardø - Nach dem Sturm ist Kiran Millwood Hargrave ein großartiger Roman gelungen, der bis zum schockierenden Ende in Atem hält. Die Autorin versteht es perfekt, die düstere Atmosphäre der Epoche zu reproduzieren und die sich langsam aufbauende Angststimmung auf den Leser zu übertragen. Mit einer klaren, eindrucksvollen Sprache versetzt sie uns in eine Zeit zurück, in der alleinstehende Frauen keinen Wert hatten und ihnen jedes Recht auf Selbstständigkeit abgesprochen wurde. Die Hexenjagd als Ausdruck der Dominanz der Männer über Frauen verbarg auch, so macht es Millwood Hargrave zwischen den Zeilen deutlich, eine tiefsitzende Angst vor Machtverlust und insbesondere vor der weiblichen Stärke, die man als Bedrohung empfand und sie daher als teuflisch verschmähte.

Der Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht, ist aber ebenso eine Allegorie auf den Mut, den Überlebenswillen und die Anpassungsfähigkeit von Frauen, die jeden Tag aufs Neue - oftmals leise und unbeachtet - ihren ganz eigenen existentiellen Kampf kämpfen und nicht aufgeben - wie groß die Widrigkeiten auch immer sein mögen. Millwood Hargrave verdeutlicht dies auf singuläre Weise - ein essentieller Aspekt, der ihr einzigartiges Buch noch bemerkenswerter macht.

Mein Fazit: Für mich einer der besten Romane des Jahres. Sehr lesenswert!