Rezension

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Großartiger Karl May-Roman mit authentischen Charakteren

Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste - Philipp Schwenke

Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste
von Philipp Schwenke

Bewertet mit 5 Sternen

Karl May, Deutschlands wohl berühmtester Autor von Abenteuer- und Reiseromanen, ist bereits 57, als er 1899 zum ersten Mal zu einer Reise aufbricht, die ihn über Genua nach Ägypten, Israel, Eritrea, Britisch-Ceylon bis nach Sumatra führt. Zu dieser Zeit hatte er seine bekanntesten Werke wie die Winnetou-Bände, Durchs wilde Kurdistan, Der Schut, etc. bereits veröffentlicht und war in ganz Deutschland bekannt als Old Shatterhand beziehungsweise Kara Ben Nemsi. Auf seiner Reise begegnet er vielen Menschen, die ihn erkennen und von ihm selbst seine Geschichten hören wollen. Nicht wenige Male wird er auch um eine Kostprobe seiner Kunst gebeten. Sein Diener Sejd begleitet ihn seit Ägypten und lernt ihn da sehr viel besser kennen als jeder andere Reisebegleiter. Auf dem letzten Stück der Reise reist er zusammen mit seiner Frau Emma und dem befreundeten Ehepaar Richard und Klara Plöhn, auf die er im Dezember 1899 in Arenzano, Italien trifft. Zurück in Radebeul ist er durch das Reisen ein anderer Mensch geworden, die Ehe mit Emma wird für beide Seiten immer schwieriger, und Karl May fragt sich zunehmend, ob Emma, mit der er 22 Jahre verheiratet ist, ihn wirklich versteht und ihn in seinem künftigen Werk die Unterstützung geben kann, wie von ihm erhofft.

Großartiger, sehr authentischer Roman über die erste Auslandsreise des großen Schriftstellers Karl May. Der Zeitrahmen des Berichts erstreckt sich nur über einen Zeitraum von April 1899 bis Dezember 1902, auch wenn der Leser natürlich aus dem Leben vor und nach dieser Zeit einiges erfährt. Geschickt wechselt der Autor zwischen dem Reisezeitraum und der Gegenwart, in diesem Fall die Zeit unmittelbar nach der Reise bis zur Scheidung und Neuheirat Karl Mays. Zusätzlich geben Einschübe wie Zeitungsartikel und Berichte des Weltgeschehens, wie den Bau des Suez-Kanals, Zusatzinformationen, die sehr gut zur eigentlichen Geschichte passen. Der Schreibstil ist sehr gehoben und wirkt auf den modernen Leser altertümlich, davon zeugen Schriftweisen wie „Civilisation“ oder Wörter wie „just“ sowie die teilweise recht verschachtelten Sätze, was dem Lesevergnügen aber absolut keinen Abbruch tut, im Gegenteil dem Ganzen noch mehr Authentizität verleiht und sich einfach wunderbar lesen lässt. Die Geschichte wird von einer Art übergeordnetem, allwissendem Erzähler berichtet, der wie ein Beobachter auf das aktuelle Geschehen schaut und oft Erläuterungen oder Hinweise gibt. Der Leser wird auch mehrfach direkt angesprochen und so direkt in die Geschichte mit einbezogen. Alles in allem ist das Ganze sehr flüssig und mit einem großen Augenzwinkern geschrieben.

Auf der Person Karl May als Hauptfigur liegt natürlich der größte Fokus. Man verfolgt seine Reisen und Erlebnisse, in seine Gedankenwelt taucht man am besten ein und bekommt die meisten Einblicke. Aber auch die anderen Protagonisten wie seine Frau Emma oder die Freunde Klara und Richard Plöhn werden vielschichtig und menschlich dargestellt und sind als Charaktere sehr gut nachvollziehbar. Als Karl-May-Leser und Fan seiner Abenteuergeschichten wird man – das ging mir so – schon etwas desillusioniert, was Karl May als Persönlichkeit angeht. Natürlich weiß man, dass er ein ungeheuer produktiver Autor war, dass die Geschichten weitgehend am Schreibtisch mit Hilfe von Lexika entstanden sind und man kennt grob die Lebensgeschichte mit den Gefängnisaufenthalten. Die Beschreibung seiner Persönlichkeit jedoch erfordert detailliertere Kenntnisse und Forschung. Die Geschichte wurde auf der Basis dieser Forschungen verfasst, und auch wenn natürlich Details zu Begebenheiten, Handlungen und Gefühlsausbrüchen fiktiv sind – dafür ist es immer noch ein Roman – so wirken doch die zu Karl Mays Charakter sehr wahr.

May ist keinesfalls der starke Old Shatterhand, sondern wirkt eher wie ein großes Kind mit überbordender Fantasie, der sich mit zunehmendem Ruhm mehr und mehr in seiner Fantasiewelt verliert. In dieser ist er welterfahren, immer souverän und unbesiegbar, in der echten leider eher hilflos und schwach. Sehr gut erkennbar wird dies durch Einschübe seiner eigenen Gedanken, die durch Kursivschrift hervorgehoben werden, etwa auf seinen Reisen, wenn zum Beispiel sein einsamer Spaziergang durch die Gassen von Kairo beschrieben wird, er sich hoffnungslos verirrt, aber gleichzeitig denkt wie er sicher durch die Straßen streift und von allen Einheimischen begrüßt wird. Seine Gedanken stehen damit immer konträr zum wahren Geschehen. Er lebt in einer anderen Welt, was sich zunehmend auch in Wahnvorstellungen äußert. Karl hat ein völlig unrealistisches Selbstbild, er ist egozentrisch und kritikresistent, giert nach Aufmerksamkeit, ist schnell beleidigt und reagiert dann wie ein bockiges Kind. Dies ist auch nicht erst seit der Orientreise so, sondern spiegelt sich sehr schön auch in Episoden wie die der gestohlenen/geliehenen Uhr und wie er diese seinen Eltern präsentiert. Nun sieht er jedoch sich und seine Wahrheit bedroht, denn immer mehr Zeitungen in der Heimat äußern Zweifel an der Richtigkeit seiner Darstellungen und damit auch an seiner Person als Old Shatterhand. Er sieht sich gezwungen seinen Kritikern entgegen zu treten und genau dazu soll diese Reise dienen. Dennoch ist er eben auch ein kluger und einfallsreicher Mensch, und sein Herausmanövrieren aus für ihn kritischen Situationen, wenn beispielsweise Mitreisende Kostproben seines Könnens verlangen und er genau weiß, er kann sie nicht geben, sind echte Eulenspiegeleien und köstlich zu lesen, so etwa das Aufsagen eines chinesischen Gedichts als Beweis seiner Sprachkenntnisse.

Die Reise verändert ihn und sein Leben auf vielfältige Weise. Er selbst wird moralischer und will am liebsten seine ersten, etwas anstößigen Werke vergessen machen. Sein Geist ist voll von Ideen und Eindrücken und er hat das Gefühl diese nicht mit seiner Frau teilen zu können. Dies wird durch den Tod seines besten Freundes Richard verstärkt. Mit ihm verliert er nicht nur einen verständnisvollen und einfühlsamen Zuhörer und Gesprächspartner, auch die Beziehungen der Verbliebenen untereinander verändern sich. Es entsteht eine Menage á trois zwischen Karl, Emma und Klara, und dies tut keinen richtig gut. Karl fühlt sich mehr und mehr zu Klara hingezogen, das widerspricht jedoch seinen strengen Moralvorstellungen. Aber auch hier schafft er es, sich eine Scheidung plausibel zu machen und diese als absolut unabdingbar anzusehen. Charakterlich sind auch Emma und Klara sehr interessant und kommen sehr nah an Hauptfiguren heran, ihre Persönlichkeiten sind sehr gut herausgearbeitet und teilweise überraschend. Bei mir wandelte sich Antipathie in Sympathie (bei Emma) und umgekehrt (bei Klara) und ich lebte stark bei diesem Trio und seinen Irrungen und Wirrungen mit.

Fazit: Großartiger Roman mit Karl May als Hauptfigur, vielschichtig und durchaus komplex und auch tiefenpsychologisch interessant. Karl May- Fans sollten sich auf eine realistische Darstellung ihres Idols einstellen, aber sie erwartet genau wie alle anderen eine spannende Reise durch den Orient und durch Karl Mays Leben. Dem Autor ist ein wunderbar literarischer Schreibstil zu eigen und ihm gelingt eine sehr authentische Darstellung der Begebenheiten. Mich hätte noch seine Motivation interessiert, ausgerechnet als Textchef eines Wirtschaftsmagazins einen Karl-May Roman zu schreiben, leider habe ich dazu nichts im Netz gefunden. Einziger kleiner Wermutstropfen im eBook war der fehlerhafte Link zur Karte, der lautete dort www.kiwi-verlag.de/karteflimmern-der-wahrheit und ging weder im Handy noch im Tablet, Varianten eingeben sowie elektronische Nachfrage beim Verlag fruchteten leider auch nicht. Der korrekte Link lautet https://www.kiwi-verlag.de/buecher/specials/karte-flimmern-der-wahrheit..... Alles in allem ein sehr lesenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt und nachhallt.