Rezension

Großartiges Debüt, das Durchhaltevermögen voraussetzt

Absolution - Patrick Flanery

Absolution
von Patrick Flanery

Bewertet mit 4 Sternen

Sam Leroux kehrt nach Jahren im Ausland in seine Heimat Südafrika zurück. Als kaum herausragender Kenner ihres Werks will er eine Biografie über Clare Wald schreiben, die (fiktive) große alte Dame der südafrikanischen Literatur. Für Sam verspricht der Auftrag der entscheidende letzte Schritt auf dem Weg zu einer Professorenstelle zu sein. Clare Wald verhält sich Sam gegenüber abweisend, obwohl ihr bewusst sein müsste, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt ihren Nachlass zu ordnen. Als Leser ahnt man, dass Claires Erinnerungen besser nicht zu trauen ist. Täuschungsmanöver sind Clares alltägliches Verhalten. Sams biografische Annäherung an die betagte Clare scheint aussichtslos, u. a. weil Clares Sohn Mark die Zusammenarbeit mit Sam verweigert. Die Abweisung Sams durch Clare wirkt umso rätselhafter, je deutlicher sich persönliche Verbindungen zwischen beiden abzeichnen, die bis in die Zeit des Apartheid-Regimes ins Jahr 1988 zurückreichen. Mit ihrem Insidergespräch über Zensur in Diktaturen weichen die Zeitzeugin und ihr Biograf der Auseinandersetzung mit Clares Leben zunächst aus. Lesern, denen die Geschichte Südafrikas noch nicht vertraut ist, wird der Zugang zum Roman durch das Abwehrverhalten beider sehr erschwert. Clares Eltern standen der Opposition gegen das Apartheidssystem nahe; Clares Tochter Laura gehörte der bewaffneten Widerstandsbewegung an. Während andere Autoren ins Exil gingen, arrangierte Clare sich mit dem Regime so weit, dass ihre Bücher weder verboten noch ausdrücklich erwünscht waren. Clare begutachtete damals Manuskripte für die Zensurbehörde, ehe die Texte veröffentlicht werden konnten. Dass aus jener Zeit noch alte Rechnungen zu begleichen sein könnten, liegt nahe.

In Rückblenden und aus verschiedenen Erzählperspektiven erschließt sich erst ab der Mitte des Buches die bisher verdrängte enge Verbindung zwischen Sam, Clare und deren Tochter Laura. Lauras Schicksal ist noch immer ungeklärt. Clare verfügt über Lauras Tagebücher und spricht in langen Monologen mit ihrer vermissten Tochter. Die Gewalttaten des Apartheid-Regimes und seiner Gegner wirken bis in die Gegenwart hinein noch auf Clare. Deren Träume und Gedanken sind zwischen zwischen Wahn und Wirklichkeit angesiedelt und symbolisieren hinter der nach außen demonstrierten "stiff upper lip" verschwiegene Schuldgefühle und Ängste.

Den Einstieg in Flanerys beeindruckenden Debütroman fand ich durch Lauras kühle Abweisung ihres kaum weniger spröde wirkenden Biografen unerwartet schwierig. Wären mir die historischen Ereignisse nicht vertraut gewesen, hätte ich den Roman nach ungefähr 150 Seiten vermutlich abgebrochen. Als Lauras und damit auch Sams Schicksal stärker in den Mittelpunkt tritt, entwickelt sich die Handlung zu einer spannenden Spurensuche, während der man als Leser seine Einschätzung der Ereignisse alle paar Seiten neu justieren muss. Für an Südafrika interessierte Leser ein bewegendes Debüt, das durch seine kunstvoll verschachtelten Erzählperspektiven einiges Durchhaltevermögen erfordert.

Zitat
"Das Geschehene als 'Situation' zu bezeichnen, war das Sicherste. Es verwies nicht nur auf die Taten, die geschehen waren, sondern auch auf den Ort dieser Taten. Es verwies nicht nur auf das Haus und die Straße und die Stadt, sondern auch auf die Region und die Provinz und das Land, wo seine Tante lebte, und auf die Beziehung aller dieser Orte zu den Orten um sie herum, ihren Zustand und ihre Verfassung, die Gebiete in noch weiterem Umkreis und so fort, bis der Kontext die ganze Welt wurde, mit einem kräftig pochenden Verbrechen in einem entlegenen unteren Quadranten. In seiner Vorstellung war das alles zusammen eine spezifische Situation und er sah sie wie in einem dramatischen Tableau, verborgen von einem Sandstaubschleier, der fein wie Mehl in der Luft schwebte und vom Rampenlichet angestrahlt wurde. Er wusste, dass er es sehen würde, wenn sie sich der Stadt von Westen her näherten und der Staubvorhang aus der gelben Erde stieg, als reckten Hände sich empor." (S. 371/372)