Rezension

Gute Schreibe, nerviger Romanheld

Sobald wir angekommen sind -

Sobald wir angekommen sind
von Micha Lewinsky

Bewertet mit 4 Sternen

Wenn ich einen neuen Titel meines Lieblingsverlages in Händen halte, bin ich grundsätzlich positiv-neugierig gestimmt. So erging es mir auch bei dem vorliegenden Titel, dessen Coverbild mich ganz besonders intensiv ansprach. Und doch weiß ich nach Lektüre nicht wirklich, wie ich dieses Buch beurteilen soll. Denn es hat mich mehr genervt als beglückt. Doch dazu später mehr.

Der Protagonist, der Schriftsteller Ben Oppenheimer, hat ein ungewöhnliches Arrangement getroffen mit seiner Ex-Frau, seinen zwei Kindern und seiner aktuellen Liebe Julia. Er lebt halb mit der früheren Familie, halb mit der neuen, um allen oder vielleicht auch sich selbst gerecht zu werden. Eine Schreibblockade lässt ihm viel Zeit für seine Rückenschmerzen und für seine Angst vor einem Krieg in Osteuropa. Aus jüdischem Fluchtinstinkt heraus entscheidet er sich plötzlich, nach Brasilien auszuwandern, zusammen mit seiner Ex-Frau und den Kindern, aber ohne Julia. Als der Atomkrieg auf sich warten lässt, beginnt Ben endlich zu begreifen, dass er nicht die Umstände ändern kann, sondern dass er sich selbst ändern muss.

Dass der Autor Drehbuchschreiber ist, hilft dem Roman und seiner Lesbarkeit sehr. Denn die kurzen Szenen sind kurzweilig geschrieben, oftmals mit einer Prise Humor gewürzt. Es wird nie langweilig, man mag immer weiter lesen und hat das Gefühl, in eine Art „Entwicklungsroman“ verlockt zu werden. Und doch habe ich noch nie mit einem Protagonisten so sehr gehadert, noch nie war mir eine Hauptperson, die Dreh- und Angelpunkt allen Geschehens und Denkens ist, dermaßen unsympathisch wie dieser Ben Oppenheimer. Sein rückgratloser Egoismus, seine ewige Zauderei und Unentschlossenheit, die aber auch plötzlich umschlagen kann in seltsam unüberlegten Aktionismus, seine Hypochondrie, sein Nichtwissen, was er eigentlich wirklich will – all das hat mich genervt, hat mich aufgeregt, hat mich immer wieder den Kopf schütteln lassen. Vielleicht wollte er Autor mit seiner mitunter eingestreuten Ironie dem Leser Distanz zu Ben Oppenheimer gewähren. Bei mir jedoch rief diese Romanfigur nur Ärger hervor. Denn Davonlaufen vor den eigenen und den gesellschaftlichen oder gar weltpolitischen Problemen findet nicht mein Verständnis, sondern Zorn und Enttäuschung. Warum soll ich darüber lesen, auch wenn es gekonnt geschrieben ist? Die Quintessenz des Romans, über die ich mich hier nicht äußern will, um nicht zu spoilern, mag für Menschen mit psychischer Struktur ähnlich wie Ben erkenntnisreich sein. Mir persönlich war das Selbstverständliche zu wenig Inhalt.

Fazit: Gute Schreibe, unterhaltsam, ironisch, aber ein Romanheld, der mir nur auf die Nerven ging.