Rezension

Heftige Familientragödie

Carls Verzweiflung - Gregor Bähr

Carls Verzweiflung
von Gregor Bähr

Bewertet mit 5 Sternen

„...Deine Frau ist tot. Sie hat sich heute Nacht das Leben genommen und liegt oben im Schlafzimmer. Du kannst aber nicht zu ihr, die Polizei ist da...“

 

Mit diesen kalten Worten und einem entsprechenden Auftreten wird Carl von Sarah, seiner Tochter, aus erster Ehe empfangen, als er von einer Geschäftsreise aus den USA zurückkommt. Er bricht zusammen. Bedingt durch den Klinikaufenthalt kann er nicht einmal an Leonies Beerdigung teilnehmen. Ihm fehlt der Moment des Abschiednehmens. Als es ihm nach einem Jahr gesundheitlich wieder besser geht, entschließt er sich zu einer Reise nach Capri. Dort hat er Leonie kennengelernt. Gemeinsame Erlebnisse haben auf Capri ihre Wurzeln. Ihn treibt die Frage um, warum Leonie ihrem Leben ein Ende gesetzt und keinen Abschiedsbrief hinterlassen hat.

Der Autor erzählt eine Familiengeschichte, die einer klassischen Tragödie gleicht. Das Buch hat mich schnell in seinen Bann gezogen.

Die Geschichte wird in vier Kapitel erzählt. Die ersten drei Kapitel werden jeweils von einem anderen Protagonisten dominiert.

Der Schriftstil ist ausgefeilt. Mit beeindruckenden Worten führt mich der Autor in die Seelen seiner Protagonisten. Carls erste Ehe endet nach sieben Jahren abrupt. Damals war Sarah sechs Jahre alt. Carl ahnt nicht, das zwei Ereignisse seiner frühen Vergangenheit entscheidet für seine letzten Monate sein werden.

Sehr detailliert wird Capri beschrieben. Ich darf Carl auf seinen Wegen begleiten. Dabei fällt manch kritisches Wort zu den Touristenrummel. Treffende Metapher findet der Autor zur Wiedergabe der Naturschönheiten und der Wetterbesonderheiten. Das liest sich zum Beispiel so:

 

„...Eigentlich erwartete ihn der Tag in allerfeinster Frühlingsgarderobe. Glitzernder Strass von Regentropfen lag auf den Hibiskusblüten, der Seidenhauch einer kaum wahrnehmbaren Luftbewegung schmeichelte der Haut, weiße Wolken vor blauem Himmelsgrund treiben dahin, rundherum das wogende Gewand in Ultramarin...“

 

Beim Spaziergang durch den Ort kommt Carl an einer Parfum-Manufaktur vorbei. Hier war er einst mit Leonie unterwegs.

 

„...Düfte sind Brandbeschleuniger der Erinnerung. Sie haben die Macht, schlagartig, distanzlos und authentisch vergessen geglaubte Bilder, Situationen, ja ganze Gefühlswelten wieder aufleben zu lassen...“

 

Der nächste Abschnitt ist Leonie gewidmet. Sie schreibt die Erinnerungen ihres Lebens nieder. Es war ein Leben mit Verlusten. Trotzdem ist sie ihren Weg gegangen. Ihre schriftlichen Ausführungen sind kursiv gesetzt. Zwischen den einzelnen Absätzen werden in normaler Schrift ihre Gedanken wiedergegeben. Dieser Teil wird emotional bewegend erzählt.

 

„...Wenn dir ständig weggenommen wird, was dir im Leben das Liebste ist, woran dein Herz hängt, was du glaubst zu brauchen wie die Luft zum Atmen, dann gewöhnst du dir bald die ausgelassene Fröhlichkeit ab. Du lebst immer in der unbewussten Erwartung des nächsten Schicksalsschlages...“

 

Über Sarahs Handlungen möchte ich nichts sagen. Das muss man als Leser auf sich wirken lassen. Dieser Abschnitt liest sich hart. Fehlende Empathie, Hass und Rache führen ein bitteres und zerstörendes Regime. Auslöser war der Tod der Mutter Zita und ihre letzten Worte. Unversöhnlich und voller negativer Gedanken hat sie diese Erde verlassen. In ihrem letzten Moment hat sie in ihre Tochter den Gedanken der Rache gepflanzt.

Interessant in dem Zusammenhang ist das Nachwort des Autors. Er hält dem Leser einen Spiegel vor. Sehen wir, was wir sehen wollen? Was ist Wirklichkeit, was Vermutung?

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es ist keine einfache Lektüre, denn die Emotionen fahren Achterbahn. Wer ist Opfer? Wer ist Täter? Fragen, denen ich mich als Leser stellen muss.