Rezension

Hintergründiges über die Wechselwirkungen von Macht und Privatem

Wir müssen dann fort sein - Dirk Brauns

Wir müssen dann fort sein
von Dirk Brauns

Bewertet mit 4 Sternen

~~Dirk Brauns beleuchtet in seinem Roman „Wir müssen dann fort sein“ das Leben seines Protagonisten Oliver Hackert zwischen (Post-) DDR und Post-Sowjetunion – letzteres am Beispiel Belarus/Weißrussland. Das Buch ist in zwei Teile geteilt: ab S. 185 ist Hackert in Minsk, wo er als Auslandskorrespondent einer deutschen Zeitung mit seiner einheimischen Ehefrau lebt. Mit dem Ziel seines beruflichen Aufstiegs und der Möglichkeit einer Versetzung nach Berlin will er den Diktator Lomon in Minsk im Interview mit internen brisanten Informationen konfrontieren. Im Teil davor ist er in Deutschland, um an diese zu gelangen; sein Vater ist ein Freund desjenigen, von dem er sie erhalten will. Dummerweise ist der Kontakt zwischen Vater und Sohn vor 10 Jahren abgebrochen.

Brauns beherrscht bestimmte sprachliche Taktiken, an die ich mich erst gewöhnen musste, so eine Art „Schnitzeljagd“: Er streut eine Bemerkung ein, die ich anfangs noch überlas – später wird sie dann wieder aufgegriffen, dabei mal aufgelöst, mal erweitert, mal variiert.
So steht da „Unter der Zeltplane, an die ich denken musste, lag ein Toter.“ (S. 51). Dieser Satz steht allein, soll aber noch eine Rolle spielen.
Oder nach der Westflucht seines besten Freundes „Er hatte mir Nadine zurückgelassen, ein lebenshungriges Mädchen in einem, wie sich herausstellen sollte, sehr besonderen Zustand.“ (S. 81) Später werden die Folgen der Abtreibung geschildert.
Ebenso eingestreut sind die Reportagen, die Hackert veröffentlicht – welchen Zweck er dabei mit bestimmten Themen verfolgt, wird auch im Verlauf immer klarer.

Ab hier fällt es schwer, das Buch zu rezensieren, ohne zu spoilern – es geht quasi im Systemvergleich DDR und Weißrussland um Konflikte zwischen Vätern und Söhnen, darum, wie Menschen sich einer Idee voller ehrlich empfundenem Enthusiasmus verschreiben, wie andere rebellieren, weitere sich arrangieren, etliche leiden. Es geht um Schuld und –bewusstsein, Macht, Wissen. Viel Wissen wird nebenbei vermittelt (DDR, Belarus). Tragisch erscheint die Rolle des Vaters – inwieweit auch der Sohn am Ende in der Realität angekommen ist, scheitert oder einfach endlich aufgeklärt wurde, mag im Auge des Betrachters liegen. Speziell zu Hackert bleibe ich bis zuletzt unentschieden.

Ich lebe selbst in einer „gemischt deutsch-deutschen Familie“ und denke, dass (unabhängig von meinen Erfahrungen) nicht jedem Teile der Sicht von Autor Brauns zur Vergangenheit gefallen können: so redet er von dem „halben“ oder „kleinen“ Land DDR. Auch bezüglich der Wehrzeit des Protagonisten bei der Bereitschaftspolizei lässt er kein gutes Haar an den Volkspolizisten, ihre Beschreibung deutet an, als wären alle besoffen oder dämlich (S. 136). Das mag ich ebenso wenig wie die Filme, die z.B. Nazis oder Kleinkriminelle so darstellen, mit Verlaub, das diskreditiert auch etwaige Opfer. Über spezifisches „Kasernen-Verhalten“ hat man leider inzwischen auch beispielsweise zu bestimmten Bundeswehreinheiten aus den Medien lernen dürfen (rohe Leber essen). Auch die Beschreibung über Sex unter einigen der Männer aus Dominanz und als Ausweichhandlung war mir eher zu klischeehaft, das wird sonst gerne für Gefängnisse beschrieben.

Vorab – mir hat das Buch sonst sehr gut gefallen, bis auf etwas, das hier mehrfach erwähnt wurde: es gibt zwei Stellen, die auch ich als etwas zu sehr über die Kippe zwischen direkt und vulgär hinaus gegangen empfinde (den Kasernensex fand ich eher langatmig).
Zur Verdeutlichung zitiere ich hier bewusst:
Einmal geht es um erste sexuelle Erfahrungen des Heranwachsenden – mit etwas mehr Details als nötig.
-> Abschnitt ab S. 43 unten
„Vor meinem inneren Auge tauchten die geschwänzten Schultage auf, wenn mein Vater sich auf Lesereise begeben hatte. Mit den Frauen des Magazins, einer für damalige Verhältnisse freizügigen Zeitschrift, zog ich mich in dieses Zimmer zurück.
…bis S. 48 unten
„Das war nicht das Ende unserer Beziehung. Über Jahre liebten wir uns während der Lesereisen meines Vaters. Das Haus meines Vaters war ohne Nadine nicht vorstellbar. Obwohl sie drüben auf der Terrasse lag, war sie hier. Bei mir. Sie trabte durch die Räume und wollte gewichst werden.“
Auch beim zweiten Abschnitt geht es um seine Jugendfreundin Nadine. Während die Beziehung der beiden viel von einem Zweckbündnis hat, war Hackerts bester Freund Mike sehr verliebt in sie. Als Mike in den Westen flüchtet, kommen Hackert und Nadine wieder zusammen – davor hatte Nadine das Kind, das sie von Mike erwartete, abgetrieben.
-> S. 88/89 schildert auch die Konsequenzen direkt danach etwas zu plastisch für meinen Bedarf
Ich hoffe, dass der Autor sich mit diesen Szenen und dieser Wortwahl etwas gedacht hat – ich weiß jedoch nicht recht, was. Die Darstellung wirkt unangemessen und kontrastiert sehr mit der Darstellung später zu den Eheleuten Oliver Hackert und Darja, die fast technisch wirkt, eher an „Beamtendeutsch“ erinnert:
 „Organisch waren keine Aussetzer zu beklagen. Abgesehen davon, dass ich das Gefühl hatte, durch ein tiefschwarzes Vakuum zu trudeln, funktionierte in diesem Hotelzimmer alles prima. Ich verkehrte mit der Frau, die ich liebte. Ich achtete darauf, dass auch sie auf ihre Kosten kam und nicht dachte, sie wäre besser zu Hause geblieben.“ (S. 273)
Leider liest man den „Nadine-Part“ zuerst. Vielleicht geht es um diesen Kontrast, vielleicht liegen dem Autor diese Szenen nicht. Es könnte auch um das generelle Unwohlsein mit der Situation in der Jugendzeit gehen mit einem generellen Ekel oder…?!
Dann wieder zeigt Brauns was er kann, die Beschreibung des Interviews finde ich beeindruckend, der Autor war selbst Korrespondent.

Insgesamt – mit Abzügen für die temporäre Stil-Schwäche – ein Buch, durch das ich viel nachdenken musste zu den Wechselwirkungen von politischem Druck und privaten Beziehungen, über persönliche Verantwortung, familiäre Verpflichtungen, gesellschaftliche Freiräume und Zwänge.