Rezension

Historisch informativer und zeitgenössischer Reisebericht

Streifzüge durch Deutschland - Mary Shelley

Streifzüge durch Deutschland
von Mary Shelley

Bewertet mit 5 Sternen

Kaum jemand kann sich heute vorstellen, wie beschwerlich und oft unbequem eine Urlaubsreise quer durch Europa vor 175 Jahren war. Genau dies beschreibt in allen Einzelheiten die britische Schriftstellerin Mary Shelley (1797-1851) in ihren 1844 in England veröffentlichten Reisebriefen, die jetzt erstmals auf Deutsch zeitgleich in zwei Buchausgaben nachzulesen sind – in der zweibändigen Gesamtausgabe „Streifzüge durch Deutschland und Italien: In den Jahren 1840, 1842 und 1843“ des Corso-Verlags und in dieser hier besprochenen einbändigen Kurzfassung „Streifzüge durch Deutschland“ mit Shelleys nur Deutschland betreffenden Briefen, übersetzt von Herausgeber Michael Klein, im Januar im Morio-Verlag erschienen. Etwa 25 Jahre nach Erscheinen ihres Grusel-Weltbestsellers „Frankenstein“ (1818) folgt die durch Schicksalsschläge psychisch und physisch geschwächte 43-jährige Schriftstellerin - die Gründe erfährt man im Nachwort des Herausgebers - dem Aufmunterungsversuch ihres Sohnes Percy und dessen Studienfreundes Alexander A. Knox zu gemeinsamen Europa-Reisen mit Endziel Italien. Ist die erste Reise (1840) noch zeitlich begrenzt, scheint dies bei der zweiten Reise (1842) nicht gegeben. An mancher Station bleibt man spontan mehrere Tage, im bayerischen Kurort Bad Kissingen gleich vier Wochen. Shelley beschreibt ihre Reiseabschnitte in 14 ausführlichen, manchmal sogar ins Detail verliebten Briefen, in der wir die Eindrücke dieser Zeitzeugin hautnah miterleben. Allein schon die Wahl der Transportmittel quer durch Europa ist beeindruckend. Weite Wegstrecken müssen noch immer in der Kutsche bewältigt werden, auf der Mosel chartert die Gruppe ein Ruderboot, auf dem Rhein nutzt man dann ein Dampfschiff. Wo Schienen bereits verlegt sind, setzen sie sich in die ersten Eisenbahnen mit noch offenen Waggons. Zwar schätzt die Autorin dieses neue Verkehrsmittel, das andere Zeitgenossen noch verfluchen, bedauert aber, dass man die Landschaft nicht mehr in Ruhe betrachten kann: „Wir nahmen unsere Plätze ein und wurden gen Frankfurt geschleudert.“ Wenn die Bahn mit rasanten 30 bis 40 Stundenkilometern gar zu schnell ist, rufen verängstigte Fahrgäste dem Lokführer zu, er möge doch langsamer fahren. Der mehrmonatige Aufenthalt in verschiedenen deutschen Ländern ist der britischen Gruppe etwas erschwert, da keiner Deutsch konnte, umgekehrt die Deutschen kein Englisch: „Französisch war nur von geringem Nutzen.“ Nicht überall gab es schmackhaftes Essen, aber Shelley lobt eine deutsche Spezialität: „Ich habe die besonderen Genüsse exzellenten Brotes stets genossen und gepriesen, selbst wenn alles andere nichts taugte.“ Immerhin schmeckten auch zünftige Bratkartoffeln und der Wein. In den 1840er Jahre kommt gerade der Tourismus moderner Prägung auf. Entsprechend wittern Gastwirte, Kutscher und andere touristische Dienstleister das große Geschäft - auch bei schlechtem Service -, worunter auch Shelleys Reisegruppe zu leiden hat: „Die deutsche Küche ist sehr schlecht, wir mussten lange warten und wurden nur schleppend bedient.“ Gastwirte sorgen gezielt für die Verspätung bestellter Kutschen, um Reisende zur Übernachtung im Gasthof zu zwingen. Preise für Übernachtung, Mahlzeiten und Transport werden nach äußerer Erscheinung des Gastes willkürlich festgelegt. Doch trotz aller unliebsamen Erscheinungen und Widernisse liebt Mary Shelley das Reisen: „Reisen heißt, in jenem Buch zu lesen, das der Schöpfer selbst geschrieben hat und das tiefere Weisheit verleiht als die gedruckten Wörter der Menschen.“ Shelleys Reisebriefe sind unbedingt lesenswert, zeigen sie doch ein zeitgenössisches Bild des Reisens vor 175 Jahren. Dieses überaus interessante, sehr leicht und auch abschnittsweise lesbare, nur 200 Seiten fassende Buch ist jedem Reisenden unserer Tage zu empfehlen: Mögliche Reisemängel werden nach Lektüre dieses Buches völlig unbedeutend erscheinen.