Rezension

Historischer Island-Krimi

Der Reisende - Arnaldur Indriðason

Der Reisende
von Arnaldur Indriðason

Bewertet mit 4 Sternen

In Reykjavik wird ein Mann erschossen aufgefunden, den die Polizei zunächst für den Mieter der Wohnung hält, den Handelsreisenden Felix Lunden. Als Tatwaffe wird ein amerikanischer Colt ermittelt, der zum US-Militär zu führen scheint; denn Island ist seit Sommer 1941 von der US-Army besetzt. Beide Vermutungen erweisen sich bald als falsch. Die Ermittlungen führt der einheimische Polizist Flóvent durch, dem als Verbindungsmann zur US-Militärpolizei der Kanadier Thorson zugeteilt wird. Thorsons Eltern stammen aus Island, er ist bereits in Kanada aufgewachsen. Beide Männer nehmen als ziemliche Greenhorns in Polizeiangelegenheiten ungewöhnliche Rollen ein. Polizeiliche Ermittlungsmethoden scheinen damals in Island noch in den Kinderschuhen zu stecken und Kapitalverbrechen höchst selten vorgekommen zu sein. Flóvent ist als einziger Ermittler in der Hauptstadt zurückgeblieben, seit seinen Kollegen kriegswichtigere Aufgaben zugeteilt wurden. Thorson bekommt von seinem Vorgesetzten bei der Militärpolizei Druck, den nach Ansicht der US-Behörden unfähigen Einheimischen den Fall möglichst bald aus der Hand zu nehmen. Für die Tat in einem im Krieg besetzten Land sammelt das Ermittlerduo einen ganzen Strauß an möglichen Motiven. Auch wenn der Tote nicht Felix Lunden ist, gibt es Hinweise, dass der wirkliche Felix in der Rolle eines Handelsvertreters für Deutschland spioniert haben könnte und das aufgefundene Opfer deshalb sterben musste. Weitere Fäden führen zu Felix Vater, der schon vor dem Krieg zur nationalsozialistischen Rassentheorie geforscht hat, und zu Vera, der kurzzeitigen Lebensgefährtin des Toten, die im Camp Knox offiziell eine Wäscherei für die US-Soldaten betreibt. Das Baracken-Camp Knox befand sich im Zweiten Weltkrieg dort, wo heute die Blaue Lagune dampft.

„Der Reisende“ erscheint als erster Band (um Flóvent) zu „Schattenwege“, das zwar früher veröffentlicht wurde, zeitlich jedoch Jahre später spielt. Da die amerikanische Besatzung in Island bis heute noch zitiert wird, fand ich das Szenario des Krimis viel versprechend, der aufzeigt, wie stark sich das Land im Krieg veränderte, das bis dahin von Fischerei und Landwirtschaft geprägt war. Die Figuren der beiden jungen Ermittler wirken völlig glaubwürdig, die in ungewöhnlichen Zeiten selbstständig ermitteln, ohne dass Vorgesetzte ihnen genaue Weisungen geben. In Friedenszeiten wären beide vermutlich reine Befehlsempfänger gewesen und evtl. Ermittlungserfolge hätten ihre Vorgesetzten sich ans Revers geheftet. Auch wenn mit den rassentheoretischen Untersuchungen von Lunden senior, den sozialen Bedingungen im Land und der Prostitution im Umfeld einer Armee reichlich viele Problemfelder in diesem Band untergebracht werden, hat mir die unkonventionelle Arbeitsweise des Ermittler-Duos gefallen, ebenso ihre Ernsthaftigkeit und Höflichkeit den befragten Zeugen gegenüber. Auf manche Leser wird der Plot überladen wirken, als sozialkritisches Zeitzeugnis fand ich den Kriminalfall mit seinen handelnden Figuren sehr ansprechend.
 

Die Reihe (Flóvent-und-Thorson)

1. Der Reisende (spielt zeitlich vor Band 2 und ist später erschienen)
2. Schattenwege (2015)