Rezension

Hochinteressante Grundidee, aber sehr gewöhnungsbedürftiger Schreibstil!

Der letzte weiße Mann -

Der letzte weiße Mann
von Mohsin Hamid

~ Nach einem schwierigen Einstieg habe ich doch noch begonnen, „Der letzte weiße Mann“ zu mögen. Das lag an der hochinteressanten Grundidee, an den spannenden Fragen, die der Autor stellt, an den schönen Zitaten und den Figuren, die mir langsam doch ein wenig ans Herz gewachsen sind. Auf ganzer Linie überzeugen konnte mich dieser utopische / dystopische Roman dennoch nicht; ich hätte mir noch etwas mehr Tiefe, mehr Emotionen und vor allem mehr Punkte (= kürzere Sätze) gewünscht. Von mir gibt es trotzdem eine Empfehlung, aber keine uneingeschränkte: Schaut euch vor der Lektüre unbedingt die Leseprobe an! Wenn sie euch überzeugt, steht ein paar interessanten Lesestunden, die auch euch sicherlich zum Nachdenken bringen werden, nichts mehr im Wege! ~

Inhalt

Es ist ein Morgen wie jeder andere – und doch verändert er alles, denn der eigentlich weiße Fitnesstrainer Anders wacht mit dunkler Hautfarbe auf. Immer mehr Menschen verwandeln sich, die weiße Mehrheit im Land wird langsam zur Minderheit. Militante Gruppen wollen das aber nicht akzeptieren, es kommt zu Aufständen, bürgerkriegsähnlichen Zuständen und Ermordungen…
 
Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive im Wechsel
Kapitellänge: kurz

Tiere im Buch: +/- Kaulquappen werden unabsichtlich von Kindern getötet, ansonsten werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Content Note / Inhaltswarnung: Tod von Menschen, Rassismus, Diskriminierung, Hassverbrechen, Gewalt (auch gegen Kinder), Krankheit, Trauer, Suizidgedanken, Erbrechen, Drogen,
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: ---

Rezension

„Eines Morgens wachte Anders, ein weißer Mann, auf und stellte fest, dass seine Haut sich unleugbar tiefbraun gefärbt hatte.“ E-Book, Position 40

Bei diesem Buch haben mich die positiven Rezensionen der Kritiker·innen im englischsprachigen Raum und die erfrischende, spannende Grundidee (ich liebe ja sowieso Dystopien / Utopien! ♥) neugierig gemacht. Außerdem war der Autor schon zweimal für den britischen Booker Prize nominiert – auch das weckte mein Interesse.

Kurz: Habe ich das großartige Buch bekommen, das ich erwartet hatte? Nicht ganz! Aber habe ich diesen Roman trotzdem gerne gelesen und konnte ich von der Lektüre etwas für mich mitnehmen? Ja, definitiv! Dabei fiel mir der Einstieg alles andere als leicht, weil ich große Schwierigkeiten mit dem ungewöhnlichen Schreibstil hatte. Mein Problem: Mohsin Hamid weigert sich schlicht, Punkte zu setzen! Seine Sätze gehen deshalb alle (fast ausnahmslos!) über mindestens einen Absatz, wenn nicht sogar über eine ganze Seite, was ich beim Lesen sehr mühsam und anstrengend fand. Dabei habe ich überhaupt nichts gegen lange, verschachtelte Sätze, WENN die Komplexität der Gedanken diese erfordert. Das war aber hier überhaupt nicht der Fall, hier werden meist ohne jede Notwendigkeit in einfachem Vokabular verfasste Hauptsätze bandwurmartig aneinandergereiht. Da hätte man (als Service für Leser·innen) ganz einfach Punkte setzen können – und es auch sollen. Hätte das Buch nicht nur 160, sondern 300 Seiten oder noch mehr gehabt, hätte ich es mit Sicherheit abgebrochen, aber so konnte ich es aushalten.

Mit der Zeit habe ich mich dann zum Glück an die Sprache gewöhnt und ich bin auf einige sehr schöne, tiefgründige, fast schon weise Zitate und treffende, berührende Beobachtungen menschlichen Verhaltens gestoßen, was mir sehr gut gefallen hat. Man könnte sagen, mir ist das Buch schlussendlich doch noch ein bisschen ans Herz gewachsen und ich kann nun zumindest verstehen, warum der Autor mit seinen Texten schon für Preise nominiert war.

„Anders‘ Straße war stockdunkel, und auch auf den Hauptstraßen war die Beleuchtung lückenhaft, als fehlten ihr Zähne.“ E-Book, Position 172

Die Grundidee ist natürlich erfrischend anders und hochinteressant. Mohin Hamid wagt in seinem Roman (der am Anfang etwas an Kafkas „Verwandlung“ erinnert) ein Gedankenexperiment: Was würde passieren, wenn weiße Menschen sich plötzlich verwandeln würden und eine dunkle Haut bekämen? Was würde das mit der Gesellschaft machen? Wäre so eine Zukunft utopisch oder doch dystopisch? Wäre eine Welt ohne unterschiedliche Hautfarben eine bessere, friedlichere? Im Mittelpunkt stehen hier Themen wie Rassismus (der alle Bereiche des Lebens durchdringt), das Leben als Schwarze Person in einer weißen Mehrheitsgesellschaft, Identität, Verschwörungstheorien, menschliches Zusammenleben, Angst und Hoffnung.

„[…] sagte Anders, er sei nicht sicher, ob er noch derselbe Mensch sei, anfangs hatte er das Gefühl gehabt […], aber so einfach war das nicht, wie die Menschen um einen herum sich verhielten, beeinflusste ja auch, wie man war, wer man war […]“ E-Book, Position 430

Dabei liefert Mohsin Hamid keine einfachen Antworten, sondern lässt vieles offen und seine Leser·innen eigene Schlussfolgerungen treffen. Einerseits mochte ich das, andererseits wurden mir aber rassistische Denkweisen und Äußerungen nicht immer klar genug benannt und kritisiert, sodass ich glaube, dass sie manchen (nicht dafür sensibilisierten Menschen) vielleicht entgehen könnten. An manchen Stellen hätte ich mir außerdem einfach noch MEHR gewünscht: mehr Tiefe, mehr Emotionen, mehr Atmosphäre, mehr Spannung, mehr Details (zum Beispiel darüber, was auf den Straßen genau passiert). So konnte sie mich leider emotional nicht immer so erreichen, wie ich mir das erhofft hatte.

Die Figuren überzeugten mich dafür mit jeder Seite mehr. Am Anfang war mir besonders Oona noch unsympathisch; sie wirkte sehr distanziert, aber nach und nach taut sie auf und man beginnt, sie und Anders (auch zusammen als Liebespaar) zu mögen. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass die Hauptfiguren noch eine Spur greifbarer gewesen wären, dass sie einen noch ein wenig näher an sich herangelassen hätten, dass ich noch ein bisschen mehr mit ihnen mitfühlen hätte können.

Aus feministischer Sicht gibt es bei diesem Buch allerdings gar keine Beschwerden, denn es verzichtet auf gegenderte Beleidigungen und Sexismus und präsentiert uns stattdessen eine starke weibliche Hauptfigur und eine einvernehmliche Beziehung auf Augenhöhe. Zum Glück verzichtet der Autor hier auch auf den sexualisierenden und objektifizierenden Male Gaze (= männlichen Blick) und beschreibt seine weiblichen Figuren (genauso wie die männlichen) einfach als das, was sie sind: Menschen mit Persönlichkeit. Leider ist das bei männlichen Autoren auch im Jahr 2022 immer noch nicht selbstverständlich (looking at you, Chris Whitaker!), deshalb gibt es von mir dafür ein Lob!

Mein Fazit

Nach einem schwierigen Einstieg habe ich doch noch begonnen, „Der letzte weiße Mann“ zu mögen. Das lag an der hochinteressanten Grundidee, an den spannenden Fragen, die der Autor stellt, an den schönen Zitaten und den Figuren, die mir langsam doch ein wenig ans Herz gewachsen sind. Auf ganzer Linie überzeugen konnte mich dieser utopische / dystopische Roman dennoch nicht; ich hätte mir noch etwas mehr Tiefe, mehr Emotionen und vor allem mehr Punkte (= kürzere Sätze) gewünscht. Von mir gibt es trotzdem eine Empfehlung, aber keine uneingeschränkte: Schaut euch vor der Lektüre unbedingt die Leseprobe an! Wenn sie euch überzeugt, steht ein paar interessanten Lesestunden, die auch euch sicherlich zum Nachdenken bringen werden, nichts mehr im Wege!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 3 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Ende: 4 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Figuren: 3,5 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Wendungen: 3 Sterne
Atmosphäre: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 5 Sterne ♥
Einzigartigkeit: 4 Sterne

Insgesamt:

❀❀❀,5 Sterne

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Sterne!