Rezension

Hochverdichteter Gedankenstoff

Realitätenhandlung -

Realitätenhandlung
von Lisbeth Exner

Bewertet mit 5 Sternen

Obdach ist ein Menschenrecht, aber muss es die Wohnung sein, in der man aufgewachsen ist?

Bei der dementen Mieterin in der Wiener Altbauwohnung sei doch die Frage erlaubt, ob es dem Allgemeinwohl zuträglicher wäre, wenn sie ihren Platz räumen und so der anwesenden Eigentümerin die Sorge nehmen würde, dass die Alte in dem verschlissenen Fauteuil mit ihren Kerzen irgendwann das ganze Haus abfackelt. Zumal diese Kerzen sich auf hüfthohen Stapeln von Zeitungen und Werbeprospekten befinden, die sich fast nahtlos an die gefüllten Bücherregale anschließen.

Für den Besichtigungstermin einer bevorstehenden Delogierung (Räumung) hat sie sich die nötige Unterstützung eines Gerichtsvollziehers, eines erfahrenen Spediteurs und eines flinken, jungen Mannes vom Schlüsseldienst geholt. Nun stehen sie alle hier in der stickigen, sommerheißen Wohnung und kämpfen mit ihren Dämonen. Alle 5 hängen ihren Gedanken nach, Gedanken über Alkohol, unwirtschaftliches Eigentum, schwierige Vergangenheiten und Kindheitserinnerungen. Sie sind alle nur mit halber Aufmerksamkeit bei der Sache und ob die ungebetenen Besucher der alten Dame die sechste Person im Raum bemerken, bleibt unklar.

Dabei ist sie doch die wichtigste Person hier im Bunde. Sie war es doch bisher, die größere Unglücke zu verhindern wusste und seit ihrem Ableben sehr angenehm zwischen den Büchern im Regal gehaust hat. Sie kennt auch die Vermieterin, denn sie ist ihre 120 Jahre alte Großmutter und ohne sie hätte die Enkelin nicht diese Immobilie geerbt. Sie muss sich etwas einfallen lassen, das alles so bleibt, wie es ist. Da kommt ihr der überraschend gebildete Türöffner zuvor und referiert über Menschenwürde, Freiheitsrechte und Besitzpflichten.

Dieses auf knapp 140 Seiten und exakt 49 Minuten verdichtete Prosastück navigiert den Leser mit jedem Kapitel durch die Gedankenströme aller Beteiligten dieser beeindruckenden Demonstration von Ordnung und Anstand. Argumente werden in ihre Bestandteile zerlegt, das wackelige Gesellschaftskonstrukt bekommt gehörige Risse und schließlich wird klar, dass ein Stein im Glashaus lieber ungenutzt bleiben sollte.

Das schmale Büchlein besitzt viel österreichischen Charme, aber auch viel gesellschaftlichen Zündstoff, der über Alkoholismus, Rassismus und Demenz hinaus geht. Es hält so einige Überraschungen bereit, aber das Ende bleibt (GsD) offen.