Rezension

Im letzten Licht des Herbstes

Im letzten Licht des Herbstes -

Im letzten Licht des Herbstes
von Mary Lawson

Bewertet mit 5 Sternen

 

In "Im letzten Licht des Herbstes" (erschienen im Heyne-Verlag, 2021, HC geb., 332 S.) entführt uns die kanadische Autorin Mary Lawson in die kanadische Kleinstadt Solace (Nord-Ontario), in der das Leben der HauptprotagonistInnen (Elizabeth, Clara und Liam) sowie einiger anderer Personen gehörig durcheinandergewirbelt wird; der Roman spielt im Herbst 1972.

 

Clara (8) vermisst ihre Schwester Rose (16) sehr; diese ist seit vielen Tagen nicht mehr aufgetaucht und nach einem weiteren Streit mit ihrer Mutter einfach verschwunden. Zunehmend verzweifelt, sitzt sie jeden Tag nach der Schule am Fenster, um nicht den Augenblick zu verpassen, wenn ihre geliebte Schwester wiederkommt. Von Woche zu Woche wird es schwieriger, da die Sorge um Rose natürlich auch ihre Eltern umtreibt. "Nichts ist mehr normal" und genau das wünscht sich Clara, die man im Roman als sehr tapfer, auch verantwortungsvoll und klug kennenlernt: Sie füttert Moses, den Kater der netten und älteren Nachbarin Mrs. Elizabeth Orchard, die im Krankenhaus liegt und Clara verspricht, dass sie bald wieder nach Hause kommt.

 

Elizabeth erzählt in Rückblicken (im Krankenhaus) aus ihrem Leben mit Charles, ihrem Ehemann, der vor einigen Jahren gestorben ist. Sie liebt Kinder, hat auch in ihrem Beruf mit Kindern gearbeitet und leider ist die Ehe kinderlos geblieben; Charles jedoch und ein kleiner Junge, der vor 30 Jahren viel Freude in das Leben von Charles und Elizabeth brachte, sind immer gegenwärtig.

 

Liam Kane erbt das Haus von Elizabeth und zieht, sein Leben mit Fiona und als Buchhalter in Toronto hinter sich lassend, und zieht in Mrs. Orchards Haus. Wird er es verkaufen - und irgendwo anders ein neues Leben beginnen - oder bleibt er, der erst einmal große Schwierigkeiten hat, sich in der kleinen Stadt im Norden heimisch - und wohlzufühlen? Clara, die den Kater füttert (Moses nimmt immer Reißaus, wenn Liam nach Hause kommt und soll am Ende noch eine Schlüsselrolle einnehmen, was mir sehr gut gefallen hat), geht weiterhin ins Haus und trifft eines Tages auf den "Störenfried", den sie bei näherer Betrachtung wohl doch eher nett findet; mit ihm die Kisten wieder auspackt, die er eingepackt hat (Mrs. Orchards Sachen) und sich eine Annäherung anbahnt, die soweit geht, dass das verstörte Mädchen Vertrauen fasst und Liam etwas anvertraut, was zum Auffinden der Schwester führen könnte...

 

Meine Meinung:

 

Selten habe ich einen Roman gelesen, der in solcher Weise in die emotionale Tiefe geht; Entwicklungen aufzeigt, die teils tragisch und auch traurig (Elizabeth) wie auch andererseits hoffnungsvoll sind und an den richtigen Stellen auch leisen Humor anklingen lassen. Die Spannung wird durch den Wechsel der Erzählperspektiven der drei Hauptfiguren gut aufgebaut und das Hauptthema ist das spurlose Verschwinden von Rose: Man zittert mit Clara, wann die Schwester und ob sie unbeschadet wiederkommt; erahnt das Dilemma und die Verstörung, die dieser Verlust auf ein kleines Mädchen wie auf seine Familie sich auswirkt; kein Stein bleibt in solch einem Falle auf dem anderen.

Auch Elizabeth stellt sich der Frage, inwieweit sie dafür verantwortlich war, dass vor 30 Jahren ein Vorfall für zwei Familien tragische Folgen hatte: Sie mochte den kleinen Jungen auf Anhieb und merkte, dass die Mutter die Zwillingsschwestern (zweimal zwei Mädchen) bevorzugte. Für Liam blieb weder mütterliche Zuwendung noch Liebe. Dieses grauenhafte Verhalten von Annette, einer mir sehr unsympathischen Figur, das darin mündete, Elizabeth vorzuhalten, sie habe Schlimmes getan, um von ihrer eigenen Unfähigkeit abzulenken, fand ich sehr betrüblich. Vor allem für den kleinen Liam, der das Trauma einer frühkindlichen emotionalen Vernachlässigung zeitlebens mit sich herumtrug. An sich selbst und seiner Beziehungsfähigkeit zweifelte; ungern mit anderen Menschen zusammen war und in den letzten Jahren seiner Ehe mit Fiona eher unglücklich war: Solace sollte für ihn ein Ort werden, um sich selbst zu finden.

 

Fazit:

 

Mary Lawson hat die Schicksale dieser drei Menschen so berührend miteinander verwoben, dass es mir eine Freude war (eine große), diesen Roman, den ich als zutiefst menschlich empfunden habe und der trotz trauriger Passagen auch immer Hoffnungslichter setzte, zu lesen. Gefühlvoll und authentisch beschreibt dieser Roman die Katastrophe, wenn ein 16jähriges Mädchen plötzlich verschwindet und die Eltern wie auch die kleine Clara verzweifelte Wochen ausharren müssen; nichtwissend, ob Rose noch am Leben ist oder nicht. Es geht auch um positive zwischenmenschliche Beziehungen (nachbarschaftlichen, wie sie Clara zu Mrs. Orchard pflegt), ungewollte Kinderlosigkeit und die Liebe zu Kindern, die das Leben erhellen, aber auch um problematische Verhältnisse zwischen einer Mutter und deren Sohn, die mir sehr nahegingen, da ich dies auch als eine Form von Gewalt erachte (Entzug von Liebe und Zuwendung im frühkindlichen Alter). Trotz aller Konflikte ist dieses Buch das warmherzigste und authentischste, das ich seit Langem gelesen habe! Daher erhält es eine absolute Leseempfehlung und 5* von mir mit einem Dank an die Autorin und auch an die Übersetzerin Sabine Lohmann.