Rezension

In Schwarz-Weiß

Die Fotografin
von William Boyd

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ein Klick, die Blende schließt – der Startschuss zu einem neuen Leben. Mit sieben hält Amory Clay ihre erste Kamera in Händen, eine Kodak Brownie Nummer 2, und mit ihr sind alle Weichen gestellt. Amory Clay, Fotografin, Reisende, Kriegsberichterstatterin. Statt als Gesellschaftsfotografin in London zu reüssieren, lässt Amory alles Vertraute hinter sich und beginnt 1931 ein Leben voller Unwägbarkeiten in Berlin. Ein Berlin der Nachtclubs, des Jazz, der Extravaganz und Freizügigkeit – und der ersten Anzeichen von Bedrohung und Willkür. Amory Clay, eine Frau, die ihrer Zeit weit voraus ist, die unerschrocken ihren Weg geht, ihre Lieben lebt, ihre Geschicke selbst in die Hand nimmt. Tief fühlt sich William Boyd in sie ein und versteht es glänzend Fiktion und Geschichte miteinander zu verschränken: das ausschweifende Berlin der frühen dreißiger Jahre, New York, wo sie den Mann trifft, der alles verändert, das Paris der Besatzungszeit. Wie schon in »Ruhelos« schenkt Boyd uns eine unvergessliche Heldin, eine verwegene, verblüffend moderne Frau – und einen Künstlerroman, der das Porträt einer ganzen Epoche zeichnet.

Amory Clays, Fotografin und Weltenbummlerin, lebt jetzt, 1977, mit 69 Jahren auf der schottischen Halbinsel Barrandale und hält Rückblick über ihr Leben. Geboren als älteste Tochter des britischen Schriftstellers B.V. Clay, der nach seiner Rückkehr aus dem 1.Weltkrieg nicht mehr schreiben kann, und seiner Frau, die ein großes Haus unterhält und sich für wohltätige Zwecke einsetzt. Der Verbündete für Amory, die gern ihrem eigenen Kopf folgt, wird Greville, der Bruder ihrer Mutter, ein Fotograf, der dem Mädchen seine erste Kamera schenkt und damit ihren Weg vorzeichnet.
Während dessen avanciert Amorys jüngere Schwester Peggy zu einer gefeierten Pianistin.
Trotz bester Schulnoten entscheidet sie sich, Fotografin zu werden, zieht nach London, dann nach Berlin. Ihre erste Ausstellung in der englischen Hauptstadt provoziert einen Skandal und sie zieht weiter nach Amerika, wo sie auch ihrem verheirateten Geliebten näher ist.
Nach einem Aufenthalt in Frankreich während des 2. Weltkriegs kehrt sie wieder in ihr Heimatland zurück und heiratet dort. Nach dem Tod ihres Mannes will sie es noch einmal wissen und lässt sich, inzwischen über 50 Jahre alt, als Kriegsfotografin nach Vietnam berufen. Doch sie spürt, dass sie das unstete Leben nicht mehr so verkraftet wie als junge Frau und verbringt ihren Lebensabend in einem der Häuser ihres Mannes auf der schottischen Insel.

Das Leben der Frau mit dem männlichen Vornamen Amory verläuft spannend und abwechslungsreich. Auf packende Art stellt Boyd sie vor; sie weiß, was sie will, und wird nur gelegentlich von den Regungen ihres Herzens (und Körpers) überrollt. Sie lebt nicht auf großem Fuß, aber getreu ihren Wünschen und ihrem Kopf. Sie begibt sich in Gefahr, sie sucht das Abenteuer, und sie setzt sich gegenüber ihren Vorgesetzten durch. Fotografieren bestimmt ihr Leben und ihren gesamten Alltag; immer wieder erwähnt sie Situationen, in denen sie zur Kamera griff, und die Fotos finden sich für den Leser im Buch. Sie gibt nie auf, auch wenn sie in eine verzwickte Lage oder in Gefahr gerät und nimmt jede Herausforderung ihres Berufes an, kann aber auch zurückstecken, wenn es verlangt wird.

Dennoch wirkt sie nicht wie ein Übermensch, eher wie eine sehr offene und ehrliche Frau, die auch zu ihren Schwächen steht, den vorschnellen Entscheidungen, den falschen Einschätzungen und einer leichten Überheblichkeit gegenüber ihren Mitmenschen.

Sie trinkt nicht wenig und raucht wie ein Schlot. Dass sie eine Zigarette anzündet, wird in jeder Szene erwähnt. Ein Kritikpunk: Das müsste in dieser Häufigkeit nicht sein.

Auch im Alter verfolgt sie konsequent ihren Weg: Sie hat alles bereit gestellt für einen Suizid, zu dem sie entschlossen ist, sobald die Krankheit, an der sie leidet, schlimmer wird und ihre Lebensqualität entscheidend beeinträchtigt.

Das Buch gehört zu meinen Lesehighlights in diesem Jahr.