Rezension

Jahreshighlight 2021

Kleine Paläste -

Kleine Paläste
von Andreas Moster

Bewertet mit 5 Sternen

In meinem Leben, wie es hätte sein sollen

„Susanne sah ihn nicht mehr an, sprach kein Wort mehr mit ihm. Die halbe Stunde blieb ihm ein Rätsel. Ein ganzer Mensch schien darin verschwunden zu sein, eine Zeitspalte, in die Susanne durch seine Schuld gestürzt war, durch irgendetwas, was er getan oder nicht getan hatte.“

Inhalt

Susanne Dreyer hat geduldig gewartet, bis in ihrem Nachbarhaus endlich jener Zustand eintritt, bei dem sie in Erscheinung treten kann, nachdem sie im Sommer 1986 der Familie von außen gesehen den Rücken gekehrt hat, während sie innerlich nie Abstand nehmen konnte. Jetzt ist Sylvia Holtz, ihre Nachbarin, die Frau von Carl gestorben und deren einziger Sohn Hanno kehrt zurück, um sich um den im Rollstuhl sitzenden Vater, der mittlerweile an Demenz leidet zu kümmern. Und Susanne ist da, wie all die Jahre zuvor, als ihr Leben an einem Sommerabend eine alles verändernde Wendung genommen hat, die sie bis heute dazu veranlasst, die Familie Holtz durchs Fenster heimlich zu beobachten. Aber Hanno ist einfach nur froh, dass Susanne ihm nun ihre Hilfe anbietet, nicht ahnend, dass sie eine ganz persönliche Rechnung begleichen möchte … 

Meinung

Von diesem Buch bin ich tatsächlich schwer begeistert, nicht nur wegen der Story an sich, die so ganz alltäglich und nebensächlich wirkt, aber bereits auf den ersten Seiten eine immense Dichte und Intensität erreicht. Eigentlich überzeugt mich hier das Gesamtpaket, angefangen bei einem leichten, prägnanten Schreibstil, der mehr beobachtend und distanziert wirkt und dennoch jedwede Gefühlsregung vermitteln kann, über die sich langsam entfaltende Geschichte mit ihren deutlichen Prämissen und klaren Strukturen, bis hin zu einer höchst feinfühligen Persepektivenvielfalt, die selbst Stimmen aus dem Jenseits aktiviert. Äußerst selten kann mich ein Buch so dermaßen in seinen Bann ziehen, dass ich es immer weiterlesen möchte, insbesondere wenn es sich um eine Erzählung der Gegenwartsliteratur handelt, die eine so greifbare, realistische Handlung vorzuweisen hat, die rein theoretisch genau so hätte stattfinden können. 

In Erinnerung bleibt nicht nur die Anfangsszene, in der ein Hund zum Mörder wird, sondern auch die schleichende Beklemmung, die sich mit jeder Seite weiter manifestiert und so genau nicht in Worte zu fassen ist. Die Thematiken des Buches sind tatsächlich sehr umfassend, fast schon willkürlich gewählt und folgen keinem bestimmten Ablauf, so dass die Spannung irgendwo zwischen den Zeilen feststeckt und man gezwungen ist, dort weiterzustochern, wo man die Leichen im Keller vermutet. Sehr hilfreich sind in diesem Zusammenhang die Stimmen aus der Vergangenheit, die immer wieder kleine Episoden in ein anderes Licht tauchen und die Zusammenhänge umso deutlicher hervorheben. 

Fazit

Für mich ein absolutes Jahreshighlight, dem ich begeisterte 5 Lesesterne gebe. So genau kann ich meine Faszination gar nicht beschreiben, denn allein die literarische Umsetzung und der Schreibstil sind zwar top aber durchaus nicht so ungewöhnlich. 

Auch die Handlung hat keinen wahnsinnigen Reiz, verliert sie sich doch zwischen zwei Einfamilienhäusern, deren Bewohnern und einer langen, langen Zeit. 

Und dennoch ist es der rote Faden, dem ich hier nur zu gern um jede Ecke gefolgt bin, mit genau der richtigen Distanz zwischen den Protagonisten und dem Leser, mit dem Zeigefinger auf der Wunde, die immer noch schmerzt, bis zum bitteren Ende. Ein Roman der bei mir sehr lange nachhallt und dem ich viele Leser wünsche, denen es nicht vordergründig um eine spektakuläre Story geht, sondern um die leisen Zwischentöne, bei denen die Melodie aus Vergangenheit, Gegenwart, Schuld und Vergebung zu einem Ohrwurm wird.