Rezension

Jeder hätte es bemerken können ...

Der kürzeste Tag des Jahres - Ursula Dubosarsky

Der kürzeste Tag des Jahres
von Ursula Dubosarsky

Bewertet mit 5 Sternen

Vorn im Buch zeigt der Stammbaum eine auf den ersten Blick übersichtliche Patchwork- Familie, in der es fünf Töchter und den Nachkömmling Samuel gibt. Doch im Leben von Samuel und seinen Schwestern ist nichts übersichtlich. Vater Elkanath hat mit seiner ersten Frau fünf Töchter, von denen die vier älteren Mädchen bei der Mutter in Melbourne leben. Das Nesthäkchen Theodora kam als Baby aufgrund der Wochenbettdepression der Mutter zu Elkanaths zweiter Familie (seine Ehe mit Hannah) nach Sydney und lebt dort noch immer. Obwohl sie kaum verschiedener sein könnten, fühlen Theodora und ihr ein Jahr jüngerer Bruder Samuel sich verbunden wie Zwillinge. Theodora geht völlig in der Sprache und ihren Tagebucheintragungen auf; Worte und Ideen sprudeln geradezu aus ihr heraus und ihre Notizbücher voller Beobachtungen füllen bereits einen Schrank. Samuel bewundert seine schlaue Schwester grenzenlos. Wie stellt sie es nur an, so viel zu wissen, obwohl sie keine anderen Informationen aufsaugt als ihr Bruder? Auch sein Großvater Elias steht Samuel sehr nahe. Verbunden sind beide u. a. durch ihren gemeinsamen Geburtstag am 21.6., den längsten Tag des Jahres. Aus Elias Familie gibt es keine Fotos, keine Erinnerungsstücke, alle Familienangehörigen wurden in Deutschland ermordet. An diesem Punkt der Geschichte wird deutlich, dass es in Samuels Familie Themen gibt, die gegenwärtig sind, obwohl nicht über sie gesprochen wird. Diese Entdeckung wirkt beinahe wie eine Warnung, die Leser sollten doch genauestens auf feine Untertöne achten; denn die Geschichte ermordeter Vorfahren ist eine ganz andere als die verstorbener Angehöriger. Die Zufalls-Bekanntschaft Hannahs mit einem Einwanderer aus Hongkong setzt in ihrer Familie eine Lawine dramatischer Ereignisse in Gang, ausgelöst durch weiße Flecken in der Familiengeschichte und Halb-Informationen, die entstehen, wenn ein Gesprächpartner dem anderen nicht ganz konzentriert zuhört. Dinge geschehen hier unbemerkt, obwohl jeder sie hätte wahrnehmen können - wenn derjenige sich seiner Sache etwas weniger sicher gewesen wäre.

In einem äußerst spannenden Plot folgt man Dubosarskys durch Schweigen trickreich angezogenem Spannungsbogen und erkennt gemeinsam mit Samuel, wie ernst die Folgen sein können, wenn mehrere Familienmitglieder Informationen für Tatsachen halten, die sie nur mit halbem Ohr aufgenommen haben. Ursula Dubosarsky hat mich mit diesem Buch über eine leicht chaotische Patchwork-Familie berührt und überrascht, weil sie das Schicksal des Großvaters Elias zunächst feinfühlig zurückhält und ihre Leser gemeinsam mit der Hauptfigur die Hintergründe im eigenen Tempo entdecken lässt. In einem Jugendbuch, das unterhalten möchte, aber nicht zwangsläufig belehren sollte, finde ich dieses Vorgehen sehr passend. (Warum der Verlag, anders als im Klappentext, im Kurztest verrät, was Samuel selbst erst nach aufregenden Verwicklungen herausfindet, kann ich nicht nachvollziehen.) Eine mir bisher unbekannte Autorin - und sicher ein Lese-Highlight im Jahr 2013.