Rezension

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John Katzenbach und die Dialektik

Gone Girl - Das perfekte Opfer - Gillian Flynn

Gone Girl - Das perfekte Opfer, 2 MP3-CDs
von Gillian Flynn

Bewertet mit 5 Sternen

Analyse einer Ehe, messerscharf gezeichnete Figuren, Motive, die an Katzenbach erinnern, eines der stärksten Bücher des Jahres

Als Nick Stone an seinem fünften Hochzeitstag nach Hause kommt, stellt er mit Schrecken fest, daß seine Frau Amy verschwunden ist. Das Wohnzimmer ist verwüstet, alles deutet auf einen Kampf hin. Auch die Polizei geht von einem Verbrechen, vorerst von einer Entführung aus. Aber genausogut könnte doch Nick seine Frau umgebracht haben. Immerhin hat sich ihrer beider Ehe nur mehr an der Oberfläche harmonisch gestaltet, zu unüberbrückbar waren die Abgründe, die in der Ehe aufgebrochen sind. Auf der einen Seite das mondäne New Yorker Upperclass-Mädchen, dem die Übersiedlung ins ländliche Missouri einen ihr ungewohnten Lebensstil aufgezwungen hat, auf der anderen Seite Nick, der Sproß einer irischen Arbeiterfamilie, der sich ständig unter Duck sieht, den Ansprüchen seiner Frau zu genügen. Und was, wenn es weder Entführung, noch Mord ist ...?

Mit dieser Ausgangssituation ersinnt die amerikanische Autorin Gillian Flynn einen in drei Teile gegliederten Roman, in dem in zahlreichen Unterkapiteln die Geschehnisse jeweils aus der Sicht von Nick und Amy erzählt werden. Während in Nicks Teilen die relative Gegenwart in der dritten Person geschildert wird, verbleibt es die Aufgabe der Amy-Teile, als Erzählerin in der ersten Person in der Form eines Tagebuchs die in der Vergangenheit liegenden fünf Ehejahre aufzurollen.

Wie viel ist in den vergangenen Jahrhunderten bereits gedichtet, als Theater oder Oper auf die Bühne gebracht und verfilmt worden über die Stürme des Lebens, denen das Schiff der Ehe (die wohl beliebteste Metapher) auf seiner Reise standhalten muß. Wie viel Dramatik bietet es doch, das Boot im Happy-End-Sonnenuntergang zu bestaunen, um es mehrere Szenen später an den scharfkantigen Klippen zerschellen zu lassen. Wie viel Kreativität und Kunstfertigkeit entwickeln die Autoren aller Jahrhunderte, um das alte Erzählmuster vom Scheitern der Harmonie anwenden zu dürfen. Auch Gillian Flynn gesellt sich in diese illustre Gesellschaft, indem sie den Untergang nicht wie Billy Wilder mit dem siebten Jahr, sondern schon mit dem fünften Hochzeitstag markiert. Im ersten Moment ist jedoch lediglich das Gefährt erkennbar, das vom Ballast der Jahre nach unten gezogen wird, erst nach und nach lenkt die Autorin den Blick des Lesers auf die vielen kleinen Löcher, durch die ebenso langsam wie unaufhaltsam das Wasser in den Kahn eindringt. Wo es heißt, daß Gegensätze einander anziehen, ist hier das Gegenteil der Fall. Geprägt durch die unterschiedlichen Biographien von Nick und Amy bringen beide grundverschiedene Erwartungshaltungen in die Ehe mit. Anstatt jedoch tolerant ein Gleichgewicht zwischen ihrer beider Ansprüche zu schaffen, reiben sich Nick und Amy aneinander, scheuern sich in beinahe masochistischer Weise ihre Seelen wund. Nick, wiewohl ein brillianter Kopf, fühlt sich der scharfsinnigen Amy intellektuell unterlegen, sie hingegen macht ihn wehmütig für die an sich beobachtete Entwicklung vom Großstadt-Partygirl zur Hüterin eines durchschnittlichen Südstaatenherdes verantwortlich.

Wie jedoch erzählt man vom langsamen Scheitern einer Ehe, an dem wohl beide Partner einen Teil der Schuld tragen? Anstatt sich der Gefahr der Nüchternheit auszusetzen, die eine neutrale Perspektive bietet, entscheidet sich Gillian Flynn dafür, beide Beteiligten zu Wort kommen zu lassen. Dabei macht sie sich geschickt den Umstand zunutze, daß der Leser Sympathien für die erzählende Figur entwickelt, deren Sicht für bare Münze nimmt, um sich anhand ein und desselben Ereignisses bei einem Wechsel der Perspektive auf die andere Seite zu schlagen. Flynn läßt dem Leser dabei allerdings wenig Entscheidungsfreiheit, treibt ihn regelrecht von der Rolle als Nicks Kumpel in Amys Arme und wieder zurück. Welches seltsame Verständnis der Ehe trägt Nick in sich, wenn er es als lästige Pflicht empfindet, seiner Gattin Freude zu bereiten und es stattdessen vorzieht, sein männliches Ego anhimmeln zu lassen? Und warum ist umgekehrt Amy nicht in der Lage, das Ich in ihrem Leben durch ein großes Wir zu ersetzen, wenn sie anläßlich der Hocnzeitstage Schnitzeljagden veranstaltet, die nur dazu dienen, das Licht, in dem sie erstrahlt, noch heller scheinen zu lassen? Indem die Autorin den Leser für beide Figuren abwechselnd Sympathie und Antipathie empfinden läßt, unterstreicht sie die ganze Tragweite menschlicher Beziehungen und die emotionale Knochenarbeit, die vollbracht werden muß, um das Ehe-Schiff auf Kurs zu halten.

Und wenn der Leser das virtuose Navigieren der Autorin auf der Skala der Grauschattierungen bewundert, setzt sie am Beginn des zweiten Teils eine Zäsur, mit der sie ihn regelrecht verspottet, ihm zu erkennen gibt, daß die wahre Geschichte noch gar nicht begonnen hat. Indem sich nämlich Amys Tagebuch als großangelegte Fälschung entpuppt, wird auf einen Schlag ihre Erzählung aus dem ersten Teil nicht nur relativiert, sondern für nichtig erklärt, ihre gesamte mühsam entworfene Persönlichkeit nicht nur infrage gestellt, sondern in ihre Einzelteile zerlegt. Doch bevor der Leser Gelegenheit hat, das wahres Ausmaß dieser Enthüllung zu begreifen, reißt ihn eine komplett neue Amy mit sich. Wenn nun allerdings die Tagebuch-Identität bloß als Beweismittel konstruiert wurde, um Nick des Mordes überführen zu können, bricht dem Leser ein Stück des so sicher geglaubten Bodens weg, er ist nunmehr einzig auf Nicks Version der Geschichte als glaubhafte Quelle angewiesen. Wenn es der Autorin jedoch gelingt, mit einem kurzen Kunstgriff die Situation so radikal neu zu ordnen, kann man ihr als Leser wohl nur mehr so weit vertrauen wie jemandem, der mit süßen Versprechungen in einen unheimlichen Keller lockt und dann in der Mitte des Raumes das Licht auslöscht.

Aus der antiken Rhetorik stammt der als "Kunst der Gesprächsführung" bekannt Begriff der Dialektik. Dabei wird eine gängige Auffassung (These) mit ihrem Widerspruch (Antithese) konfrontiert und daraus eine Lösung (Synthese) entwickelt. Dieser dreiteilige Aufbau ist nun auch in "Gone Girl" wiederzufinden. Legt man die Struktur der Dialektik auf die Handlung des Romans um, ergibt sich folgende Entsprechung:
Teil 1, These: Amy inszeniert ihre Ermordung, um anhand der gestreuten Indizien Nick in jeder Hinsicht zu vernichten.
Teil 2, Antithese: Nick erkennt die Täuschung und schmiedet seinerseits Rachepläne gegen Amy.
Teil 3, Synthese: Amy kehrt zurück, beide begreifen, daß sie als Gegensatzpaar aufeinander angewiesen sind.

Interessanterweise birgt die Synthese in diesem Fall keine Lösung des Konflikts, sondern drängt danach, ihrerseits wieder als neuerliche These, als Auftakt einer weiteren Kontroverse zu fungieren. Da nämlich Amy das erreichte und mühsam aufrecht erhaltene Gleichgewicht wieder durchbricht, indem sie eine Schwangerschaft bewußt herbeiführt, erzeugt sie eine Situation, die als nächsten logischen Schritt eine Aktion von Nick in vergleichbarer Intensität erfordern würde. Indem dieser jedoch klein beigibt, sich den Gegebenheiten fügt, durchbricht er diesen Zirkel, seine scheinbare Niederlage wird zum eigentlichen Sieg. Damit verweigert er sich nicht nur einer weiteren Runde gegenseitiger Aufreibung, sondern findet durch die Verantwortung für sein Kind ein Mittel gegen die schwärende Misogynie in seiner eigenen Familie.

Neben der Behandlung lebensgroßer Themen gelingt es der Autorin en passant noch, Seitenhiebe auf die amerikanische Medienkultur anzubringen. Nach dem Motto "Schuldig ist, wer für schuldig befunden wird", durchläuft Nick ein professionelles Coaching, wie er sich zu verhalten hat, um die Öffentlichkeit nicht gegen sich aufzubringen. Da gemäß der Thesen von Neil Postman der Fernsehzuschauer nicht mehr zwischen Realem und Fiktivem unterscheiden kann, muß sich die Realität der Dramaturgie der Fiktion unterwerfen. Da durch die Medien als Multiplikator dem Konsument die Macht des Caesaren in der Glatiatorenarena gegeben ist, nehmen die nach oben zeigenden Daumen für den im Rampenlicht Gefangenen das Urteil vorweg.

Fazit:
Die Widrigkeiten des ehelichen Alltagslebens, John Katzenbachs Lieblingsthema des Opfers, das die Initiative ergreift und den Spieß umdreht, die Negierung einer absoluten Moral durch die Relativierung von Perspektiven ... Gillian Flynn hat durch die Vielzahl an Motiven einen mehrschichtigen Roman geschaffen, der seine Faszination vor allem daraus bezieht, daß er sich einer eindeutigen Kategorisierung verweigert.