Rezension

Karl-Heinz Otts kleiner Roman zeigt seine große sprachliche Kunst

Und jeden Morgen das Meer
von Karl-Heinz Ott

Bewertet mit 5 Sternen

Karl-Heinz Ott, Und jeden Morgen das Meer, Hanser 2018, ISBN 978-3-446-25995-9

 

In seinem neuen kleinen aber inhaltlich und stilistisch schwergewichtigen Roman erzählt der Schriftsteller Karl-Heinz Ott die Geschichte der in der Jetztzeit des Romans 62-jährigen Sonja. Über dreißig Jahre lang war sie Chefin eines altehrwürdigen Familienhotels am Bodensee. Und jetzt führt sie eine abgetakelte Pension in einem Dorf am Meer in einer der einsamsten Gegenden des ansonsten schon hinterwäldlerischen Wales. Jeden Morgen hört sie das Meer und geht auch zu einem Felsen, voller Gedanken an ihren eigenen Tod, den sie imaginiert und manchmal regelrecht herbeisehnt. Nur ein Sprung und sie wäre erlöst von einem Schicksal, das sie hart getroffen hat.

 

Doch Sonja gibt nicht auf. Immer zwischen der Gegenwart im verlassenen Wales, wo sie sich um die wenigen Gäste der heruntergekommenen Pension eines Onkels von Mister Pettibone kümmert - die einzige Zuflucht, die sie nach dem Debakel mit dem eigenen Hotel gefunden hat - und den Stationen ihre Lebens wechselnd, setzt Karl-Heinz Ott nicht immer chronologisch die Bruchstücke eines im Grunde genommen traurigen Lebens zusammen.

 

Dieser Mister Pettibone hat über die ganzen dreißig Jahre auch in den letzten, als die Schwierigkeiten des Hotels nicht mehr zu übersehen waren, ihr als Gast die Treue gehalten und hat jedes Jahr auf dem Weg in die Schweiz bei ihr Station gemacht. Er hat ihr nach dem großen Debakel diesen zugigen und öden Ort vermittelt.

 

Und nun steht sie am Meer und blickt zurück. Auf ihre schwere Kindheit, als sie die unfähigen und überforderten Eltern als kleines Mädchen in ein katholisches Internat stecken. Bei aller Strenge der dortigen Schwestern, ist Sonja nach dem Ende der Schulzeit doch froh, dass sie von diesen nach St. Moritz auf eine Leerstelle in einem Hotel vermittelt wird. Dort lernt sie auch den begabten Koch Bruno kennen, der es schon bald zum Souschef des großen Hauses schafft, wo auch Sonja arbeitet. In Liebesdingen ist er allerdings nicht nur ungeschickt, sondern auch uninteressiert. Das wird leider so bleiben über Jahrzehnte hinweg und so manches Mal wird sich Sonja nach einer auch nur kurzen Umarmung ihres Mannes sehnen. In dieser Beziehung bleibt sie ihr ganzes Leben lang unglücklich

 

Denn als dessen Vater stirbt, verlangt die Mutter, dass Bruno das familieneigenen Hotel am Bodensee übernimmt. Gegen deren Widerstand bauen Sonja und Bruno das Hotel und das angeschlossene Restaurant innerhalb weniger Jahre in eine auch überregional bekannte Location, die schon bald zum Geheimtipp für Gourmets wird.

 

Als Bruno sich dann seinen ersten Michelin-Stern erkocht, kommen sie vor lauter Arbeit kaum mehr zu sich. Sie werden so berühmt, dass sogar Helmut Kohl mit den französischen Präsidenten Chirac bei ihnen absteigt.

 

Sie sind auf dem Höhepunkt. Jeden Tag werden sie vom Pariser Fischmarkt beliefert, aber obwohl sie über Wochen im Voraus ausgebucht sind, bliebt wegen der enormen Kosten, die eine solche Sterneküche verschlingt und die der exquisite Weinkeller verschlingt kaum etwas übrig. Auf der Höhe des Erfolgs haben sie kaum Mittel, das Haus immer wieder auf den neuesten Stand zu bringen., Die Qualitätsanforderungen haben sich seit sie das Hotel übernahmen extrem erhöht und bald schon ist es eigentlich nur das Sternerestaurant, das die Hotelgäste über die zunehmenden Mängel hinwegsehen lässt.

 

Doch als Bruno nach langen  erfolgreichen Jahren plötzlich der Stern wieder weggenommen wird, bleiben Kreti und Pleti, die sich all die Jahre die Klinke in die Hand gegeben haben, über Nacht weg. Sonja und Bruno müssen ihre Karte anpassen, doch der Weg in den langsamen Untergang ist schon vorgezeichnet. Bruno findet in seiner Verletzung über den verlorenen Status keine Kraft zu einem Neuanfang und die beiden Eheleute kein gemeinsames Zentrum mehr, dass sie außerhalb ihrer Arbeit auch nie besaßen und fängt an nachts im Keller zu trinken, ein Selbstmord auf Raten, den er eines Tages, die Bank gibt schon lange kein Geld mehr, auch mit Tabletten abschließt.

 

Die ehemals so resolute Sonja ist am Boden zerstört. Sie versucht in der nahen Schweiz eine Arbeit zu finden, doch niemand ist bereit, einer offensichtlich gescheiterten älteren Frau noch einmal eine Chance zu geben.

 

Brunos Bruder Arno bietet ihr eine Schuldumschreibung gegen Aufgabe aller Ansprüche an und ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen und sich in das öde und nasse Wales zurückzuziehen, wo sie allerdings im Laufe ihres Nachdenkens ober die Stationen ihre Lebens langsam stärker wird und sie denkt: „Vielleicht musste alles so kommen, wie es gekommen ist. Vielleicht hat alles seine Richtigkeit gehabt. Vielleicht gibt es doch eine Vorsehung. Vielleicht erledigt das Schicksal einfach sein Geschäft.“

Und jeden Morgen geht sie ans Meer, „und immer denkt sie, ich könnte springen…“

 

Karl-Heinz Ott hat einen ganz besonderen Roman geschrieben, in dem sogar noch das Unglück seine ganz eigene Poesie entfaltet. Sehr geschickt, unaufdringlich und kunstvoll, fügt er die einzelnen Lebensbruchstücke einer absolut zerstörten Existenz zu einem bewegenden und traurigen Psychogramm zusammen.

 

Indem er seine Hauptfigur Sonja ehrlich und selbstkritisch die Trümmer ihrer Existenz auflesen und beschreiben lässt, deutet er bei allem Unglück und aller Hoffnungslosigkeit ganz leise und zart so etwas wie einen Neuanfang an. Vielleicht, so der bewegte Eindruck des Rezensenten, hat diese einsame und ungeliebte Frau doch noch eine Zukunft. Vielleicht gibt es doch irgendwann irgendjemand, mit dem sie so etwas wie Rettung und späte Erfüllung findet.

 

Und es bleibt der Eindruck des gewaltigen Meers und seiner auch zerstörerischen Kräfte, die daran erinnern, dass in unserem Leben nichts sicher ist. Jederzeit kann in ein normales Leben etwas treten, was es in seine Grundfesten erschüttert und manchmal auch zerstört.

 

Und es bleibt die Warnung: wer nur in der Arbeit seinen Lebenssinn sucht, der wird irgendwann scheitern.

 

Karl-Heinz Otts kleiner Roman zeigt seine große sprachliche Kunst und man wartet gespannt auf ein neues Buch bei seinem neuen Verlag.