Rezension

Kartierung von Beziehungen

Die Untreue der Grönländer - Kim Leine

Die Untreue der Grönländer
von Kim Leine

Bewertet mit 4 Sternen

Der grönländische Lehrer Sejer wohnt in einem roten Haus, doch Kim Leine liefert keine skandinavische Idylle à la Astrid Lindgren. Wie in einem Diorama lässt der dänische Autor seine Leser auf eine verlassene amerikanische Militärbasis, eine stillgelegte Fabrik und leerstehende Wohnhäuser im Ort blicken. Man ahnt, dass es hinter den Haustüren alles andere als idyllisch zugehen wird. Die mörderische Witterung, Gewalt und Familienfehden bestimmen den Alltag der Menschen. Die Atmosphäre in der kleinen grönländischen Siedlung wirkt aufgrund der mangelnden Privatsphäre erstickend, beinahe klaustrophobisch. Mehr als die Hälfte des Jahres wird es nicht richtig hell. Wer auf dem Eis oder im eiskalten Wasser verunglückt, hat in der Kälte keine Überlebenschance. Von den wenigen Dänen, die aus beruflichen Gründen im Ort leben, sagt man, Grönland habe ihnen ihre Unschuld genommen.

In Kim Leines fast schon grotesk realistischer Schilderung der fiktiven Siedlung und ihrer Bewohner gibt es auf den ersten Blick keine Hauptfiguren. Leine erzählt von mehr als einem Dutzend Personen und entfaltet allmählich deren Beziehungen zueinander. Eine zentrale Rolle nimmt der dänische Krankenpfleger Jesper ein, der banale wie lebensgefährliche Erkrankungen behandelt und den Transport der Patienten ins Krankenhaus der nächsten Stadt organisiert. Wenn eine komplette Mannschaft gelangweilter Frauenfußballerinnen begehrlich Blicke auf einen jungen Krankenpfleger wirft, kann das kaum gut ausgehen. Jesper und seine Dolmetscherin Amalie wissen mehr über die Bewohner, als den Beteiligten angenehm sein kann. Die beiden sind von den auftretenden Notfällen und den sozialen Problemen manches Mal überfordert. Besonders Amalie fühlt sich häufig ausgenutzt, weil einige Bewohner ihre persönlichen Probleme auf die Krankenpfleger abwälzen und selbst immer unselbstständiger werden.

Wer die mosaikartige Konstruktion von Geschichten mag, mit der soziale Beziehungen förmlich kartiert werden, wird der Auflösung der Verbindungen zwischen Leines Protagonisten wie in einem Krimi entgegen lesen. Wer sich in einem Roman zentrale Hauptfiguren wünscht, wird mit dieser Geschichte in einfacher Sprache sicher nicht glücklich.