Rezension

Kein Platz für ledige berufstätige Frauen?

All die Liebenden der Nacht -

All die Liebenden der Nacht
von Mieko Kawakami

Bewertet mit 4.5 Sternen

Fuyoko Irië ist Mitte 30 und arbeitet als Korrekturleserin in Tokio, nachdem sie sich an ihrem früheren Arbeitsplatz als Single gemobbt fühlte. Bis auf ihre etwas ältere Exkollegin Kyoko scheint die junge Japanerin keine Kontakte zu haben. Als Kind war sie bereits Einzelgängerin und von Familienangehörigen ist nicht die Rede. Frau Ishikawa, die ihre Aufträge abwickelt, legt Fuyoko die berufliche Selbstständigkeit nahe und macht sie damit völlig abhängig von ihrer Vermittlung. Die Korrektorin kann weder beurteilen, ob der Schritt in die Freiberuflichkeit sinnvoll ist, noch hat sie einen Plan B, falls die Aufträge ausbleiben. Stets pflichtbewusst, arbeitet sie inzwischen bis in die Nacht, um keinen Fehler zu übersehen. In ihrer Einsamkeit hat Fuyoko nächtliche Spaziergänge aufgenommen – und sie trinkt bereits tagsüber Alkohol.

Die Begegnung mit dem erheblich älteren Herrn Mitsutsuka konfrontiert Fuyoko mit den Fesseln, die ihr die stark ritualisierten Sitten Japans auferlegen. Weil die Wohnungen meist zu klein sind, um Gäste einzuladen, trifft man sich in seiner Freizeit in Cafés. Makelloses Aussehen und Tischsitten sind zwar streng genormt, aber für den Umgang mit Herrn Mitsutsuka gibt es offenbar bisher keinen Code. Mitsutsuka, der sichtlich nach einem neutralen Gesprächsthema sucht, empfindet das ebenso. Er hat zwar eingebläut bekommen, wie er sich Minderjährigen und von ihm Abhängigen gegenüber zu verhalten hat, wirkt einer ledigen berufstätigen Frau gegenüber jedoch ungelenk. Der ältere Herr verkörperte für mich die erste Masche eines Beziehungsnetzes, das in Fuyokos Leben bisher fehlte. Hätte sie sich doch vor ihrer Entscheidung für die Freiberuflichkeit mit einem älteren Mentor austauschen können!

Mieko Kawakamis Icherzählerin wird mehrfach mit ihrem Dasein als Mängelwesen konfrontiert, während ihr Umfeld sie nicht davon überzeugen kann, welchen Vorteil ihr finanzielle Abhängigkeit durch Heirat bringen würde. Durch die Erzählperspektive zentriert sich der Anpassungsdruck in Japan speziell für Frauen in der Person Fuyoko. Ihre aus der Isolierung resultierende Manipulierbarkeit erkennt Fuyoko erst, als Kyoko nachhakt, was Hijiri Ishikawa mit ihrem vermittelnden Kontakt zu ihr bezwecken könnte. Die ins Home-Office separierte Fuyoko wird zum Werkzeug, um die Solidarisierung von Frauen verschiedenster Lebensentwürfe zu verhindern. Mich hat der kurze Roman nicht allein auf berufstätige Japanerinnen blicken lassen, sondern auch auf eine Gesellschaft, in der Gewalt und Unterdrückung nicht infrage gestellt werden. Muss ich etwas tun, nur weil andere es für legitim halten?