Rezension

Kein typischer Krimi - ein Blick in die menschlichen Tiefen

Oberland - Tanja Weber

Oberland
von Tanja Weber

Bewertet mit 4 Sternen

Sie schienen in einer Verzweiflung aneinandergekettet, die jeden Menschen und alles Leben ausserhalb ausschloß. Er war versehentlich eingedrungen und hatte etwas Verbotenes gesehen.

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Wie weit würdest Du gehen?
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Postbote Stifter hat sich ins beschauliche Oberbayern versetzen lassen und genießt das Leben, die Nähe zur Familie seines Freundes, die Landschaft und Natur und ab zu ein Gläschen Wein. Aber die Fassade der idyllischen Kreisstadt bekommt erste Risse, als er sich bei dem Versuch ein Einschreiben an Annette von Rechlin zuzustellen, Einlass in die Villa der dort lebenden Mutter-Tochter-Gemeinschaft erkämpft und live einen Absturz der Alkoholikerin miterlebt.
Was er da aber noch längst nicht ahnt, ist, dass Gudrun von Rechlin im Keller einen Mann gefangen hält...
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Ich habe dieses Buch nach dem ersten Drittel erst einmal zur Seite gelegt, denn meine Erwartungshaltung aufgrund der Vermarktung, Klappentext etc. war eine vollkommen andere. Das habe ich sacken lassen, um dann unvoreingenommen weiterlesen zu können.
Zum Glück, denn das hat das Buch von Tanja Weber wirklich verdient!
Dennoch eines vorweg, man kann über Postbote Stifter vieles sagen, nur nicht, dass er in irgendeiner Art und Weise ermittelt, ganz im Gegenteil. Und deswegen finde ich den vom Verlag mit Sicherheit sehr werbewirksamen Untertitel "Postbote Stifter ermittelt" nicht angebracht. Erwartet habe ich dadurch einen naturverbundenden Postboten, der seine Nase in viele Dinge hineinsteckt, durch seinen Beruf sowieso viele zwischenmenschliche Geschichten mitbekommt und dann immer weiter an der bröckelnden Fassade kratzt.
Aber weit gefehlt, man erfährt schon auf den ersten Seiten, dass die alte Gudrun von Rechlin einen Mann im Keller gefangenhält und auf den Folgenden auch noch ziemlich rasch wieso, weshalb, warum.
Das hat mich zuerst sehr irritiert, denn aus Krimi-Sicht war die Sache für mich durch, was sollte da noch groß kommen. Mir war auch gar kein Spannungsbogen ersichtlich.
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Und trotzdem hat es mich nicht losgelassen....
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Irgendwann hab ich Krimi, Krimi sein lassen und mit einer neutralen Sicht weitergelesen. Was soll ich sagen: Es hat sich gelohnt.
Dieses Buch ist kein typischer Krimi und es jetzt eine Sozialstudie zu nennen, wäre mit Sicherheit zu hoch gegriffen, aber es geht schon eher in diese Richtung.
Wer ist in der heutigen Zeit Opfer und warum? Wie weit wärst Du bereit zu gehen um Deine Existenz zu sichern?
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Tanja Weber wirft einen Blick auf unsere Gesellschaft, einen Blick hinter die schönen Kleinstadtfassaden.
Sie hat einen fesselnden, sehr starken Schreibstil und auch die Naturbeobachtungen Stifters fliessen mit ein ohne zu unterbrechen und sind beinahe so etwas wie das schöne Gegenstück zur sehr harten Geschichte.
Ansonsten ist der Postbote fast schon eine der schwächeren Figuren, denn Tanja Weber hat in der Kerngeschichte unheimlich starke, lebendige und authentische Charaktere erschaffen und so unsympathisch sie auch oftmals sein mögen, man hat sie ganz klar vor Augen, fast hört man Ihre Stimmen, und dadurch überzeugen sie auf ganzer Linie.
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Fazit: Ein gelungener Blick in die menschlichen Tiefen!