Rezension

Keine typische „Ich-verliebe-mich-und-begehre-gegen-das-System-auf“-Dystopie und das ist gut so!

Totenläufer - Mika M. Krüger

Totenläufer
von Mika M. Krüger

„Silver Coin 203“ ist ein Buch, das ich unbedingt lesen wollte, seit ich weiß, dass es geschrieben wird. Eine Dystopie rund um eine Insel im Meer, auf der eigene Regeln gelten? Klingt gut! Mal ohne Liebe und Umsturz des Systems? Bin ich dabei! Dafür düster, gesellschaftskritisch und fernab vom Mainstream? Immer her damit! :D Da ich von Mika M. Krüger schon die „Sieben Raben“ sehr mochte, habe ich die Entstehung ihres neuesten Werkes fleißig verfolgt. Netterweise hat sie mir ein Vorab-Rezensionsexemplar zukommen lassen und ich habe mich sofort ins Lesen gestürzt. Schauen wir doch mal, ob sich der Sturz gelohnt hat … :)

Erstmal muss ich die professionelle Aufmachung loben. Die schwarzen Silhouetten und das Orange des Himmels kommen in echt noch schicker rüber, als online. Auch der Klappentext sprach mich sofort an. Eine künstlich angelegt Insel, die als Zuflucht in einer zerstörten Welt gilt und auf der die Einwohner scheinbar in Frieden leben, solange sie nur ihren Nutzen erfüllen? Klingt vielversprechend oder? Gleich zu Anfang hatte die Autorin mich. Die clever ausgewählten Zeitungsartikel luden mich zum Spekulieren ein und gaben mir einen tollen Einblick in verschiedene Denkweisen in Red-Mon-Stadt.

Das erste Kapitel nahm mich mit und ich flüchtete gemeinsam mit Rina vor dem Soldaten – ein Kampf ums nackte Überleben! Die Perspektive wechselt im Laufe der Handlung noch zu drei anderen Charakteren. Jeder von ihnen hat seine eigene Sicht auf die Ereignisse und vertritt seine eigenen Überzeugungen, das macht die Geschichte interessant und vielseitig. Die Atmosphäre hat mich an den Film Noir erinnert und irgendwie habe ich die ganze Handlung in Schwarz-Weiß gesehen. Es herrscht eine drückende Stimmung vor, bei der es permanent regnet und die keinen Platz für positive Gefühle lässt.

Kennt ihr den Anime „Jin-Roh“? Er ist ein düsteres und kompromissloses Meisterwerk mit philosophischen Anklängen und setzt sich ebenfalls mit Krieg und Moral auseinander. Er hat mich tief beeindruckt und auch ein bisschen verstört. „Silver Coin 203“ hat mich irgendwie an ihn erinnert. Wenn euch der Anime auch gefällt, könnte das Buch was für euch sein! ;)

Was mich am meisten beeindruckt hat, ist Mika Krügers Schreibstil. Sehr ausgereift, nahezu perfekt. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die junge Autorin sonst erst ein anderes Buch und einige Kurzgeschichten veröffentlicht hat. Chapeau, liebe Mika! :) Auch die technischen Details und Hintergründe zu Red-Mon-Stadt haben mich überzeugt und die Geschichte realistisch und glaubwürdig vor meinen Augen entstehen lassen. Daumen hoch!

Die Charaktere sind alle tiefgründig und echt. Es gibt kein Gut und Böse, kein Richtig und Falsch, kein Schwarz und Weiß. Jeder Protagonist hat seine eigenen Beweggründe und entwickelt sich weiter. Ich mochte alle, auch oder gerade WEIL sie Ecken und Kanten haben. Nur bei Amanda lief es mir eiskalt den Rücken runter – SO muss ein echter Bösewicht aussehen! *schauder* Am Anfang brauchte ich allerdings einige Zeit bis ich alle Beziehungen sortiert hatte und wusste, wer auf wessen Seite steht. Die Motive und Vergangenheiten der Charaktere bleiben lange im Dunkeln und werden auch später nur spärlich enthüllt. Da hätte ich mir etwas mehr Infos gewünscht. Aber ich bin sicher, die zwei geplanten Folgebände halten da noch einiges bereit. ;)

Die Themen der Geschichte sind vielfältig: Schuld, Verantwortung, Integrität, Freundschaft, Vertrauen, Freiheit und das Recht und die Macht des Einzelnen in einer totalitären Gesellschaft. *uff* Eine ordentliche Bandbreite, wie ihr seht. Die Hintergrundinfos zur neuen Gesellschaft fließen geschickt mit ein, fast unmerklich und machten es mir leicht, mir eine eigene Meinung zu bilden. Die Story ist unberechenbar – kleine Überraschungen und Wendungen lauern an jeder Ecke. Einige tiefgehende Gedanken haben mich zum Grübeln gebracht – das liebe ich immer an Büchern! <3

Kommen wir neben all dem Lob zu einem kleinen Kritikpunkt: Nach einem spannenden ersten Drittel zieht sich die Story ein bisschen in die Länge. Es gibt viele Verhöre, Dialoge und Beschreibungen der technischen Hintergründe, dadurch tritt die Handlung zeitweise auf der Stelle. Mir fehlte da eine klare Richtung, ein Ziel, damit ich weiß, wohin es für die Charaktere gehen soll … Der geniale Schreibstil und die Andersartigkeit der Story trösteten mich aber darüber hinweg. :)

Am Ende spitzten sich die Ereignisse zu, es kam mehr Tempo rein und ich habe in Windeseile gelesen! :) Es fehlte mir nur der große Knall, die atemberaubende Wendung, die Steigerung der Spannungskurve, das Überraschungsmoment. Auch ein bisschen mehr Action zum Schluss wäre schön gewesen. Der ALLERLETZTE Abschnitt hat mich dann aber wirklich überrascht – nein – er hat mich sogar eiskalt erwischt! *_* Liebe Autorin, DAS KANNST DU MIR ALS CLIFFHANGERHASSENDE LESERIN DOCH NICHT ANTUN! o.O

Es gibt noch viele lose Enden, die sicher noch miteinander verknüpft werden, schließlich war das erst der Auftakt. Band 1 liest sich ein bisschen wie eine Einleitung. Die Weichen für einen spannenden zweiten Band sind auf jeden Fall gestellt und es gibt noch viele offene Fragen und Potenzial für Folgebände!

Fazit: Ein intensives und anspruchsvolles Leseerlebnis, das mich beeindruckt hat! Ich bewundere den Mut der Autorin, solch ein Werk zu schreiben. Es ist nichts für nebenbei und zwischendurch, aber dafür besonders. Man kann beim Lesen darin aufgehen und merkt, dass die Autorin all ihr Herzblut, ihren Hirnschmalz, ihre Gedanken und Gefühle hineingesteckt hat! <3

Die Geschichte ist speziell im positiven Sinne. Keine typische „Ich-verliebe-mich-und-begehre-gegen-das-System-auf“-Dystopie und das ist gut so! Wenn ihr Geschichten mit düsterer Atmosphäre mögt, bei denen Gesellschaftskritik und Charakterentwicklung an erster Stelle stehen – zögert nicht und greift zu! ;) Ich fiebere derweil Band 2 entgegen …