Rezension

Kinderemigration in Italien

Das Leben wartet nicht - Marco Balzano

Das Leben wartet nicht
von Marco Balzano

Bewertet mit 4 Sternen

Marco Balzano greift in dem Roman „Das Leben wartet nicht“, das Phänomen der Kinderemigration auf, das in der Zeit von 1959 bis 1962 noch ein letztes Mal heftig zunahm. Es handelte sich hierbei um Kinder aus armen oder sehr armen Familien, vorwiegend aus Süditalien. Der Autor interviewte zu diesem Thema fünfzehn Personen mit einer solchen Biographie und verwendete das Erzählte für sein Buch.

In zwei Erzählsträngen begleiten wir den den Protagonisten und Ich-Erzähler Ninetto durch diesen Roman. Zum einen befinden wir uns im Heute, wo Ninetto im Alter von Ende 50 nach mehreren Jahrzehnten Fabrikarbeit und einer verbüßten 10jährigen Haftstrafe versucht mit der auf sich geladenen Schuld zurechtzukommen und sich auch den veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen stellen muss. Zum anderen begleiten wir ihn bei seinen Rückblicken in eine Zeit, die rund 50 Jahre zurück liegt.

Als seine Mutter einen Schlaganfall bekommt, geht der Sizilianer Ninetto, der in großer Armut aufwächst und dessen Spitzname pelleossa ist, was so viel wie „Haut und Knochen“ bedeutet, sofort von der Grundschule ab, um fortan auf dem Feld als Tagelöhner zu arbeiten. „Nach Zank, Tagen ohne Essen und unerträglichem Gekeife“ schließt er sich mit Zustimmung seines Vaters einem erwachsenen Kollegen an, um von seiner sizilianischen Heimatstadt nach Mailand auszuwandern – in eine Stadt, die damals durch das sogenannte Wirtschaftswunder aufblühte und in die Arbeiter aus allen Regionen Italiens kamen, weil sie auf ein besseres Leben hoffen ließ.

„Es war Ende 1959, ich war neun und in dem Alter möchte man immer lieber ins seinem Dorf bleiben, auch wenn es ein beschissenes Dorf ist und keineswegs das Schlaraffenland. Aber irgendwo hört’s auf, und wenn dir scheint, das Elend werde dich gleich verschlingen wie eine Sturzwelle, dann ist es besser, du packst dein Bündel und haust ab, Schluss aus.“ (S. 17)

In Mailand angekommen, findet Ninetto schon bald Arbeit als Botenjunge und arrangiert sich mit einer Welt, in der zwar immer noch Armut herrscht, die aber nun eine Umwelt aus beengten Mietskasernen und Fabrikschloten zu bieten hat. Einziger Lichtblick bleibt lange Zeit der 15. Geburtstag, der bedeutsam ist, weil er als Einstiegsalter für die Fabrikarbeit gilt. Denn eine Anstellung in einer Fabrik zu bekommen bedeutet eine regelmäßige Arbeit zu haben, die ein eigenes zu Hause und die Gründung einer Familie ermöglicht.

In diesem Zusammenhang erscheint mir auch das auf dem Buchcover gezeigte Bild von Ben McLaughlin mit dem Titel „The income of American Workers is not keeping pace with inflation, a survey has shown“ nicht nur vom Titel sondern auch von der Abbildung sehr passend ausgewählt.

Man fühlt aufgrund der bildhaften Beschreibungen mit dem vorwitzigen lebenshungrigen Ninetto mit. Und auch wenn es das Leben nicht immer gut mit dem Kleinen zu meinen scheint, erweckt dieser Roman nicht den Eindruck, als wolle er Mitleid für die harte Kindheit seines Protagonisten erhaschen. Ganz selbstverständlich und ohne zu klagen nimmt Ninetto sein Schicksal an und kämpft, wenn es nötig ist. Auch sieht er sich selbst nicht als Einzelfall an und begreift als Erwachsener seine Vergangenheit als ein Stück seiner Lebensgeschichte, auf die er mit einem gewissen Stolz zurückblickt.

„Kein Mensch weiß im voraus, wen er findet und wen er verliert und welche Wohnung und welche Fabrik Gott für ihn vorgesehen hat.“ (S. 151)

In melancholischer Stimmung führt Marco Balzano den Leser durch eine Handlung, von der man gerne wissen möchte, wie sie weiter geht. Doch dieser Roman ist nicht nur unterhaltsam, sondern regt auch zum Nachdenken über die heutzutage wieder stattfindende Kinderemigration an und macht auch Auswanderungsgründe, die nicht ausschließlich mit Kriegen in Zusammenhang stehen, nachvollziehbar.