Rezension

Kindheit und Mutterschaft

Der Traum meiner Mutter - Alice Munro

Der Traum meiner Mutter
von Alice Munro

Bewertet mit 5 Sternen

Alice Munros Erzählungen zeichnen sich dadurch aus, dass die kanadische Autorin Alltagsereignisse, die auf den ersten Blick banal wirken könnten, solange ins passende Licht dreht, bis sie wie ein außergewöhnlicher Edelstein wirken. Kindheit und Mutterschaft sind Themen ihrer vier Geschichten in "Der Traum meiner Mutter". Die Titelgeschichte, erste und längste Erzählung des Bandes, hat mich am stärksten beeindruckt. Jill, eine junge Musikerin, deren Mann im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, zieht zu den Schwestern und zur dementen Mutter ihres Mannes. In einem verstörenden Alptraum glaubt sie, sie hätte ihr Baby im Schnee draußen zurückgelassen. Doch es ist Sommer und Jill ist von der Betreuung des anstrengenden Kindes und der Familienkonstellation überfordert. George, der Gefallene, altert in der Vorstellung der Frauen nicht, er bleibt ihr Held, während Jill den Lebensunterhalt für alle verdient und die Tanten die Entscheidungen treffen. Erzählt wird über ein anstrengendes Baby, das nicht gestillt werden will und sich nur von seiner Tante beruhigen lässt, von diesem Kind selbst.

In "Die Kinder bleiben hier" gibt der Schwiegervater seinem Sohn und der jungen Mutter Pauline seine Vorstellungen von Elternschaft vor. Brians und Paulines Urlaube mit den Eltern sind eine Fortsetzung von Brians Kindheit. Kritik am Großvater darf es nicht geben. Konflikte mit dem Sohn werden in dieser Familie nicht direkt und auf Paulines Kosten ausgetragen, Freiräume, die Pauline sich durch ihr Laientheaterspiel zu verschaffen sucht, vom Ehemann unsensibel zerstört. Pauline erlebt Liebe zu etwas und jemand Unvorsehbarem und opfert dafür ihre Kinder.

Karin ("Stinkreich") ist noch ein Kind und wirkt wie Strandgut, das die Trennung ihrer Eltern zurückließ. Karins Mutter geht eine sonderbare Beziehung zu einem Schriftsteller ein, der auf peinliche Art die Mutter vor ihrer Tochter bloßstellt. Am Ende genießt Karin das siegreiche Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein. Ihre Mutter muss erkennen, dass das Mädchen nicht mit Geld glücklich zu machen ist.

In der letzten Erzählung "Vor dem Wandel" besucht eine erwachsene Tochter ihren Vater, der seit dem frühen Tod ihrer Mutter mit nur einer Assistentin seine Arztpraxis betreibt. Der Vater wirkt erschöpft und scheint mitten in einem früheren Leben steckengeblieben zu sein. Vater und Tochter verschließen jeder ein Geheimnis, das den Weg zueinander blockiert. Wie schon die erste Erzählung wirkt besonders diese letzte durch die gelebten Werte, als lägen die Ereignisse sehr viel länger zurück als nur fünfzig Jahre. Mit einem Nachwort von Judith Hermann.