Rezension

Komplexe Familienbeziehung auf mehreren Zeitebenen

Ástas Geschichte - Jón Kalman Stefánsson

Ástas Geschichte
von Jón Kalman Stefánsson

Bewertet mit 3.5 Sternen

Mitte der 60er wird die jugendliche Ásta in den Sommermonaten aus Reykjavik auf einen abgelegenen Bauernhof in den Westfjorden geschickt. Arbeitseinsätze auf dem Land dienten damals in Island als Erziehungsmaßnahme für Jugendliche. Der Bauer Árni, für den Ásta gemeinsam mit einem gleichaltrigen Jungen arbeitet, lebt dort allein mit seiner betagten Mutter. Außer dem Leuchtturmwärter in 2 Stunden Entfernung gibt es nur eine ebenfalls betagte Nachbarin. Telefonieren kann man vom Hof aus nur, wenn das Windrad gerade Strom erzeugt – und Briefe braucht man eigentlich nur zweimal im Jahr abzuholen, meint der Leuchtturmwärter. Durch ihre Verbannung ans Ende der Welt wird Ásta vermutlich zum ersten Mal die bedingungslose Liebe ihrer Pflegemutter bewusst, die sie als Kleinkind spontan bei sich aufnahm, nachdem Ástas leibliche Mutter mit gerade einmal 19 ihre vernachlässigten Kinder allein zurückließ. Am Ende wird sich herausstellen, wie verblüffend Ásta Tochter ihrer Mutter ist. Mehr über ihre Mutter zu wissen, hätte ihr Leben sicher erleichtert - wenn die Erwachsenen mit offenen Karten gespielt hätten. Beeindruckend fand ich, wie viel Verständnis Stefánsson für Ástas sehr junge Eltern wecken kann, die die ihnen von außen zugewiesenen Rollen als Gefängnis erlebten. Zu hohe Erwartungen sollten Leserinnen jedoch nicht an die Einfühlung eines männlichen Autors stellen, der Sex noch immer mit der Fantasie verbindet, dass eine Frau vor ihrem Angebeteten knien muss …

Árni und seine Mutter sind nur zwei unter zahlreichen ungewöhnlichen Figuren. Die gebrechliche Kristín gerät an manchen Tagen in die Zeit vor 50 Jahren zurück, so dass Landwirtschaft und die Pflege seiner betagten Mutter für Árni sicher nicht leicht gewesen sein werden. In weiteren Handlungssträngen tauchen neben mehreren Erzählerstimmen und Briefen verschiedener Figuren Sigvaldi und seine Familie auf, dessen jüngerer Bruder mehrfach gut bezahlte Jobs aufgegeben hat, um zu schreiben. Der Bauer Árni wirkt sehr belesen, hat genaue Vorstellungen davon, was ein guter Autor ist, und liest regelmäßig während der Mahlzeiten. Auch die Pflegemutter liest, der jugendliche Jósef bekommt sogar von seiner Mutter ein Buch geschickt, das er gemeinsam mit Ásta liest. Das Thema Lesen und Schreiben prägt Stefánssons Figuren; als Leser erhält man so eine Ahnung davon, warum Island als Land der Leser und der Autoren hervorsticht.

Jón Kalman Stefánsson verschachtelt Ástas ungewöhnlichen Lebensweg auf drei Zeitebenen (die 60er in den Westfjorden, die Ehe ihrer Eltern 15 Jahre vorher, die Gegenwart Anfang unseres Jahrtausends, dazu kommt noch Kristíns Welt 1910) und verbirgt die komplizierte Familienbeziehung lange, indem er Personen als Tochter, Bruder, Liebhaber bezeichnet, ohne dass klar wird, um wen es sich genau handelt. Wer stets genau wissen möchte, mit welcher Figur er es gerade zu tun hat, wird den Plot sehr kompliziert finden. Die komplexe Verklausulierung hätte der Text so wenig nötig gehabt, wie einige Leerstellen, die an einen Krimiplot denken lassen.