Rezension

Kunstretter - oder Kunsträuber?

Die Fassadendiebe - John Freeman Gill

Die Fassadendiebe
von John Freeman Gill

Bewertet mit 4.5 Sternen

Griffins Vater ist offiziell Antiquitätenhändler und Restaurator, aber sein Herz hängt daran, vor dem Abbruch schnell noch Verzierungen von New Yorker Hausfassaden zu „retten“. Ob der Sammeltrieb seines Vaters  ideellen oder materiellen Zielen dient, kann Griffin lange nicht einschätzen. Bei der Beute handelt es sich um steinerne Figuren, Schmuckelemente von Fensterlaibungen und vorgefertigte gusseiserne Fassadenelemente. Eine handwerkliche Ausbildung scheint der Stein-Retter nicht zu haben bis auf Erfahrungen in seiner Jugend  in der Reparatur von Traktoren. Mit dreizehn Jahren schlank und wendig, ist Griffin der ideale Assistent, um die  Objekte der Begierde auszukundschaften und  auch selbst aus schwindelnder Höhe zu erbeuten. Ihm wird zwar gepredigt, dass er gefälligst Respekt vor der Stadtgeschichte und vor alten Dingen haben soll, die Methoden, mit denen Karyiatiden und Wasserspeier erbeutet werden, sind jedoch alles andere als respektvoll den Kunstwerken gegenüber. Einen Sinn würden die maßlosen Rettungsaktionen der beiden städtischen Strandgutsammler ergeben, wenn Objekte komplett geborgen und evtl. später wieder verbaut würden. Der Alte scheint jedoch eher zu horten und seinen Sohn bei waghalsigen Klettertouren an Hochhausfassaden in Gefahr zu bringen. Wie bei einer Schnitzeljagd kommt Griffin von seinen Alleingängen oft nur mit der Nase einer Figur zurück, die er aus einem Bild herausgeschlagen hat, und lässt  seinen Vater raten, woher die Beute stammt.

Dass die Familie dringend Geld braucht, um die Hypothek für ihr Brownstone-Haus zu tilgen, ist inzwischen auch Griffin klar geworden und er betrachtet  den Lebenswandel seines Vaters als Robin Hood der Stadtarchitektur zunehmend kritisch. Warum haben sie eigentlich kein Geld mehr, warum wirkt Griffins Mutter so deprimiert und wohin verschwindet der Vater regelmäßig, fragt der Junge sich. Während im Jahr 2008 der Orkan Emma auf die amerikanische Küste zu rauscht und er sich besser selbst retten würde, versteigt der Vater sich noch einmal zu einer Rettungsaktion, dieses Mal ist es der berühmte Adler der Penn Station.

In origineller Sprache bringt J. F. Gill seine Leser dazu, in Gedanken den Kopf in den Nacken zu legen und sich zu besinnen, welche Materialien an Manhattans Hochhäusern verbaut waren, die während der Kahlschlagsanierung der 70er Jahre dem Erdboden gleichgemacht wurden.  Der Icherzähler ist inzwischen rund 60 Jahre alt; sein Übergang von Kindheitserinnerungen zur Gegenwart wirkt so mühelos,  als würden auch Fiktion und Realität nahtlos ineinander übergehen. Von Gills Roman hatte ich unbewusst anstrengende Fachlektüre über Architektur erwartet und war von der Sprache und vom ungewöhnlichen Vater-Sohn-Verhältnis positiv überrascht.