Rezension

La Belle Époque (fast) nur für echte Blaustrümpfe

Der Mann im roten Rock - Julian Barnes

Der Mann im roten Rock
von Julian Barnes

Bewertet mit 5 Sternen

Die drei biografierten Personen werde ich (überraschenderweise!) nicht so schnell vergessen! Das steht fest. Obwohl man es nicht glaubt zu Anfang, hat man am Ende ein detailliertes Bild von ihnen.

Es ist ungewöhnlich eine Rezension mit einem Zitat aus Wikipedia zu beginnen:
(Die) „Belle Époque ist die Bezeichnung für eine Zeitspanne von etwa 30 Jahren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, hauptsächlich in Europa. Eine genaue Datierung kann nicht vorgenommen werden. Meist wird die Zeit von 1884 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 genannt. Für die Zeit vor der Jahrhundertwende ist auch der Begriff Fin de Siècle gebräuchlich.“

Besser kann man es kaum sagen und genau darum geht es: um einen bestimmten Zeitabschnitt in der Geschichte, und unsere Geschichte in der Geschichte, spielt sich hauptsächlich in Frankreich ab und ein bisschen in England.

In Frankreich, weil dort die Hauptpersonen der Handlung leben und in England, weil ein Gentleman seinen intellektuell geschärften Blick auf das in vielen Dingen eine Vorreiterrolle spielende England gerichtet hält.

Dennoch, fanden die Gentlemen, waren die Engländerinnen durchweg hässlich und rotgesichtig, die Männer und die Sitten „seltsam“, man hatte natürlich in Frankreich den besseren Geschmack und sah den Leidenschaften der Menschen als einer Art Naturgewalt viel mehr nach als die steifen Engländer, die nur die Ratio gelten lassen.

Das galt insbesondere vor Gericht. Es war möglich, dass eine durch die Presse angefeindete Frau in eine Redaktion spazierte, den Chefredakteur zu sprechen wünschte, ihn mit einem gerade erworbenen Revolver erschoss und vor Gericht freigesprochen wurde. In England wäre dies undenkbar gewesen. Auch in Frankreich ging das nur, wenn man der Oberschicht angehörte, natürlich.

In dieser vor spannenden Details wimmelnden Zeit, darunter manche Pikanterien, die uns Jules Barnes genüsslich in die Ohren reibt, er serviert uns Hunderte von kleinen, nicht allgemein bekannten Leckerbissen über Künstler aller Art, Maler, Literaten, Wissenschaftler, Grafen, Prinzen, dem ganzen Gesocks der Oberschicht, also Insiderwissen, sind Barnes Hauptfiguren, ein Graf, ein Prinz und ein Arzt.

Es handelt sich um die Personen Dr. Samuel Jean de Pozzi, Edmond de Polignac und Robert de Montesquiou.

Das Hauptinteresse des Autors gilt Pozzi, der altersmäßig von dem jüngeren Grafen M. und dem älteren Prinzen P. eingerahmt ist. Alle drei kannten sich und man unterhielt mehr oder weniger innige Beziehungen zueinander. Über den hinterfotzigen Grafen M. hatte Barnes jedoch am meisten Stoff.

Barnes umkreist seine Personen. Er umkreist sie mit der Zeit, in der sie leben. Das ist das Raffinerte, aber auch das Blaustrümpfige. Der Mann im Roten Rock ist kein Roman für Lieschen Müller.

Wenn Barnes sich mehr mit dem Leser als mit seinen Figuren verbündet, indem er immer wieder satirische Nadelstiche über das Geschriebene und die Beschriebenen in den Roman setzt, dann ist er ganz auf der Linie und einig und kongruent mit seinem Thema.

Auch die Literaten ihrer Zeit vergnügten sich mit derartigen Nadelstichen. Es gab nichts Besseres als sich gegenseitig in ihre Romane einzuschreiben und zu karikieren. Nach Herzenslust und mit spitzer Feder.

Davon wissen wir heutigen Leser zu wenig und lesen naiv darüber hinweg. Aber mit Barnes Hilfe kommen wir den Satirikern der Zeit auf die Spur.

Erst so nach und nach enthüllt Julian Barnes die zentralen Ereignisse im Leben der drei Männer, die er ins Auge gefasst hat und darunter imponiert ihm der Arzt und Lebemann Dr. Pozzi am meisten. Zu Recht, denn Pozzi war alles und er war überall, wie Barnes immer wieder süffisant feststellt („Pozzi war überall.“ „Pozzi war doch nicht überall.“) Ich höre Barnes kichern.

Unser Pozzi: Lebemann, Womanizer, Modearzt, Pionier, Professor für Gynäkologie, Erneuerer, Reisender, Literat, Sammler. Politiker mit Homestory. Das titelgebende Bildnis von John Singer Sargent lautet „Dr. Pozzi at home“.

Pozzi war Ehemann und Vater, wobei er sich in diesen häuslichen Rollen nicht so besonders hervortat. Er führte eine Ehe zur linken Hand und hatte dennoch zahlreiche Affären. Er hatte ein ausgefülltes und reiches Leben. Sogar sein Sterbevorgang war besonders; selbst dabei erwies er sich als kaltblütig und beherzt.

Die Themen der Zeit werden von Barnes, vergnüglichst mit Klatsch und Tratsch versehen, über den ganzen Roman verteilt: Dabei ist eine seiner Quellen "Die Tagebücher der Brüder Goncourts", die selber unzertrennlich waren und von denen einer an Syphilis starb. Pikante Details überall. Diese Tagebücher lesen sich wie die Yellow Press heutzutage und ein wenig ist auch Barnes Roman Yellow Press des Fin de Siècle und der Belle Epoque.

Was macht einen Gentleman aus. Was dürfen Männer? Alles. Was dürfen Frauen? Stillhalten und Leiden. Sie sind eine Geldquelle. Gerne heiratet der veramte Dandy eine amerikanische reiche Erbin. Heiraten. Kinder machen. Links liegen lassen. Ausnehmen. Das geht. Falls doch einmal aus einer solchen Vernunftehe Liebe wird wie aus der Ehe der Polignacs ist der Rest der snobistischen Männergesellschaft verstimmt. Geht gar nicht.

Die Gerüchteküche kochte fast ständig und oft focht man Verleumdungsklagen vor den Gerichten aus. Doch die französischen Gerichte, ich wollte nicht vor ihnen stehen, hatten viel Nachsicht mit Ideen! Wer also von einer Idee getrieben eine Straftat beging, konnte mit Milde rechnen. Nicht so in England, wo man Oscar Wilde anhand eines Romans den Prozess machte und ihn ins Gefängnis steckte. Homosexualität war in. Gleichzeitig anrüchig. Homosexualität war überall. Nur nicht offiziell. Das intellektuelle Gerangel zwischen England (eigentlich London) und Frankreich (eigentlich Paris) feiert bis heute fröhliche Urständ.

Ein Gentleman hatte Geschmack und hielt seine Ehre hoch. In Frankreich duellierte man sich, in England versuchte man die Dinge rationaler anzugehen. In Duellen verletzte man sich, Pistolenkugeln flogen hin und her, sie sind ein Schlüsselelement des Romans. And so on. Ich könnte noch stundenlang erzählen.

Fazit: „Der Mann im roten Rock“ ist eine äußerst originelle und raffiniert aufgebaute Dreier-Biographie, eingebaut in ein vergnügliches Sammelsurium von Kuriositäten und Insiderwissen über das Fin de Siècle beziehungsweise die Belle Epoque.

Ich gebe eine Leseempfehlung für Blaustrümpfe. Gut, dafür sollte man wissen, was ein Blaustrumpf ist. Smiley.

Kategorie: Biografie. Historischer Roman.
Verlag: Kiwi, 2021

Kommentare

OmaAnni kommentierte am 19. Februar 2021 um 17:57

Eine sehr interessante Rezension, die mich neugierig auf das Buch gemacht hat. Bisher war ich eher unschlüssig, ob ich mich herantrauen soll.