Rezension

Lebensnah mit Wiedererkennung

Die Frau von gegenüber - Herrad Schenk

Die Frau von gegenüber
von Herrad Schenk

Bewertet mit 4 Sternen

Ein Roman voller Lebenserfahrung ist Herrad Schenks (70) aktueller Roman „Die Frau von gegenüber“, der im November als Taschenbuch im Insel-Verlag erschien. Mit großer Einfühlungsgabe und Intensität analysiert die Sozialwissenschaftlerin und Sachbuchautorin in durchaus lockerem, deshalb leicht lesbarem Stil die Beziehungen und Abhängigkeiten ihrer Protagonisten innerhalb der Familien und Freundeskreise. Da gibt es einerseits Rüdiger Wolters, der seit dem Tod seiner Frau und seiner Emeritierung ohne Aufgabe und Verantwortung mit seinem Leben nichts mehr anzufangen weiß. Auch der Kontakt zu seinem Sohn und dessen Familie gestaltet sich schwierig und wird immer schwächer. Einsam in seiner Etagenwohnung beobachtet er nun das Leben unter sich auf der Straße und in den Wohnungen im Haus gegenüber. Dort lebt Rentnerin Irene Voigt, der es erst nach dem Tod ihres Mannes wieder gelungen ist, ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben zu führen. Nicht dass sie sich als vom Ehemann umsorgte Ehefrau unglücklich gefühlt hätte, nur hatte sie sich zeitlebens untergeordnet. Erst jetzt im Alter entdeckt sie ihr eigenes Ich wieder neu, hat sich einen neuen Kreis von Freundinnen aufgebaut und beginnt, ihre Freiheit zu genießen - wenn nur nicht die erwachsenen Kinder sie mit ihren Eheproblemen belasten würden. Doch nicht Irene Voigt ist die im Titel gemeinte „Frau von gegenüber“, wie man anfangs meinen könnte, sondern erst später die etwa 40-jährige, unverheiratete Frau mit Sohn und Baby, die in die Wohnung unter Irene Voigt einzieht und das Leben der beiden Alten unerwartet verändert. Das Interessante an diesem Roman ist die nur auf zwei Wohnungen begrenzte Handlung, die man sich auch als Kammerspiel auf einer Theaterbühne vorstellen kann. Dennoch gelingt es Herrad Schenk eine Dramatik und Spannung zu erzeugen, die sich – gleich der im Buch beschriebenen Wetterlage – nach einem viel zu heißen und lähmenden Sommer endlich in einem ungewöhnlich starken und klärenden Gewitter entlädt. Der mit nur 235 Seiten recht kurze Roman gibt einen treffenden Einblick in das Generationen trennende, aber auch generationenübergreifende Leben unserer Gesellschaft, in die unterschiedlichen Lebensanschauungen und -auffassungen dreier Generationen, erwachsen aus eigenem Charakter, aus Erziehung, gesellschaftlichen Zwängen und Lebensumständen. „Die Frau von gegenüber“ ist ungemein lebensnah geschrieben, so dass man nicht nur vermuten darf, dass die 70-jährige Autorin Selbsterlebtes im Roman verarbeitet hat, sondern dass sich auch der eine oder andere Leser gelegentlich ertappt fühlen dürfte.