Rezension

Lebensnahe Charaktere - nur das Drama kommt zu kurz

Der Neue - Tracy Chevalier

Der Neue
von Tracy Chevalier

Bewertet mit 4 Sternen

Nur den eigenen Vorteil im Blick

„Ian sah jeden, der neu war in seinem Revier. Denn der Schulhof gehörte ihm. Seit Monaten gefiel er sich schon in dieser Machtposition. Da stellte jeder Neue natürlich eine gewisse Herausforderung dar.“

 

Inhalt

 

Osei Kokote stammt aus Ghana, doch als Sohn eines Diplomaten muss er alle Jahre an eine neue Schule wechseln, weil die Familie mal wieder umzieht. In gewisser Weise kennt er sich also aus mit dem „neu sein“ in einer fremden Umgebung. Dennoch belastet ihn dieses ständige taxieren, einordnen und auf jeden Fall nichts Falsches zu sagen ungemein. Zu gern wäre er einfach nur er selbst, mit stabilen Freundschaften und mehreren Konstanten in seinem Leben. Auch an der Washingtoner Schule, die er nun besucht, gilt er als Außenseiter. Nicht nur weil er neu ist, sondern darüber hinaus auch noch eine andere Hautfarbe hat, als seine Mitschüler. Seltsamerweise freundet er sich gleich am ersten Tag mit einem der beliebtesten Mädchen an und wird wider Erwarten zwar angestarrt aber nicht wirklich gemieden. Für Osei ist das eine ganz hoffnungsvolle Erfahrung, die er so nicht vermutet hat, doch seine Freude währt nur kurz, denn Ian ist bereits der König des Schulhofs und er wird es gewiss nicht hinnehmen, dass ein hergelaufener Fremder sein Revier besetzt. Subtil spinnt er eine Intrige, die gleich mehrere Mitschüler einschließt und sein Ziel ist ganz klar: Osei hat an dieser Schule nicht mehr lange etwas zu lachen …

 

Meinung

 

Die in Washington aufgewachsene Autorin Tracy Chevalier widmet sich in diesem Roman einer Art Neuauflage von Shakespeares Othello – ein Außenseiter, der den Makel einer anderen Hautfarbe hat, wird Opfer von Diskriminierung und Vorurteilen. Ihr Drama legt sie auf den Schulhof einer Washingtoner High-School mit ganz klaren Rollenbildern, die alle bereits gut situiert sind und ihren Platz im Schulgefüge gefunden haben. Und zugegeben, diese ausführliche, individuelle Gestaltung der einzelnen Charaktere macht für mich den Wert des Buches aus, vielmehr als das beabsichtigte Drama, welches für meinen Geschmack auch viel zu kurz kommt, weil es erst auf den letzten zehn Seiten relevant wird.

 

Mit viel Einfühlungsvermögen beschreibt sie nicht nur Osei, der sich einfügen muss, sondern auch die sympathische Dee, die sofort Freundschaft mit ihm schließt, den Widersacher Ian, der auch vor Gewalt und Intrigen nicht zurückschreckt, seinen meinungslosen Mitläufer Rod und das Traumpaar der Schule, welches als Zielobjekt einer infamen Lüge herhalten muss. Diese vielen Verkettungen zwischen den Schülern, ihr Selbstbild aber auch ihre Außenwirkung im Schulgefüge machen für mich den Großteil der Geschichte aus. Sie sind spannend, vielschichtig, abwechslungsreich und genau im richtigen Maß ausgearbeitet. Der Alltag zwischen den Kindern wird greifbar, ebenso wie die Verteilung der Sympathien, die auch die Lehrer der Schule einbezieht. Auch der Sprachstil, den die Autorin wählt, passt ausgesprochen gut zum Text, denn ein übergeordneter Erzähler lässt die Geschichte lebendig werden und zwar aus allen Perspektiven, nicht nur aus Sicht eines Einzelnen.

 

Kleine Abstriche muss ich allerdings bei der tatsächlichen Ausarbeitung des Dramas machen. Gerade der Moment, in dem es zum finalen Treffen kommt, bei dem alle Wendungen sichtbar werden, bei dem Schuld und Gewissensfragen offenbart werden sollten, der verpufft auf den letzten Seiten fast gänzlich. Eine kurze, schicksalhafte Abfolge mehrerer Momentaufnahmen fast willkürlich aneinandergereiht und einfach so, fast schon stümperhaft in den Raum gestellt. So plötzlich wie der große Knall kommt, so abrupt endet auch die Geschichte, da haben mir noch viele Seiten zum Leseglück gefehlt, dennoch erschließt sich mir der Text weniger auf Grund seines Abschlusses als vielmehr durch die intensive Auseinandersetzung im Gesamtkontext des Buches.

 

Fazit

 

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesem klassischen Roman in Anlehnung an ein Werk der Weltliteratur. Eine individuelle, gut kontrastierte Darstellung verschiedener Rollenbilder in einem abgegrenzten Raum. Keiner kann so recht aus seiner Haut, alle müssen sich neu finden und der Neue mischt die Zusammensetzung diesmal auf. Eine tiefgreifende Debatte bezüglich des Außenseitertums und der Diskriminierung darf man nicht erwarten, weil es eine sehr erzählerische Umsetzung ist, die das romanhafte beibehält, doch als ein kleines Kammerspiel mit bekannten Größen und stimmigen Charakterzeichnungen darf sich dieses Büchlein dennoch schmücken. Mir hat es sehr gut gefallen, mit nur wenigen Abstrichen.