Rezension

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Leider nicht so atmosphärisch, tiefgründig und spannend wie Band 1!

Am roten Strand -

Am roten Strand
von Jan Costin Wagner

~ Auch „Am roten Strand“ (Band 2) überzeugt wieder mit seinem ungewöhnlichen, intensiven, literarischen Schreibstil, seinen sprachlichen Bildern und den Einblicken in menschliche Abgründe. Verbessert hat sich die Fortsetzung bei der Frauenquote, verschlechtert hat sie sich leider in den Bereichen Spannung, Tiefe und Atmosphäre. Da einer der Ermittler immer stärker selbst zum Täter wird, ist Band 2 sogar noch schwerer zu verdauen als der Auftakt – behaltet das bitte im Hinterkopf, wenn ihr das Buch lesen wollt! „Am roten Strand“ ist kein schlechter Kriminalroman (wer „Sommer bei Nacht“ mochte, kann ihm durchaus eine Chance geben) – ich habe nur einfach mehr erwartet und bleibe deshalb etwas enttäuscht zurück. ~

Inhalt

Nach den Vorkommnissen im ersten Band ermittelt die Polizei weiter gegen den Kinderpornographie-Ring. Interne Untersuchungen gegen den Ermittler Ben, der einen der Täter erschossen hat, sind ebenfalls noch im Gange – und plötzlich beginnen Ben und Christian die Verdächtigen vor der Nase wegzusterben. Ehemalige Opfer sind offenbar ebenfalls auf das kriminelle Netzwerk gestoßen und wollen Rache…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 von (aktuell) 2
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präsens
Perspektive: viele männliche und weibliche Perspektiven im Wechsel
Kapitellänge: sehr kurz

Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: Tod von Menschen, sexualisierte Gewalt, sexueller Missbrauch von Kindern, Pädophilie, Gewalt, Blut, Suizid, psychische Krankheiten, Trauer, Kinderprostitution
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: ---

Warum dieses Buch?

Band 1 war sehr düster, ungewöhnlich und poetisch – und ich mochte ihn sehr. Das ungleiche Geschlechterverhältnis (bei der Polizei arbeiten anscheinend nur Männer?) fand ich aber nervig; ich hoffte deshalb darauf, dass das in der Fortsetzung besser gelöst wird.

Kurzrezension

Das mochte ich…

+ den reduzierten, aber doch anschaulichen, intensiven und literarischen Schreibstil, der auch dieses Mal gelungene sprachliche Bilder präsentiert, sich auf das Innenleben seiner Figuren konzentriert und viel mit Assoziationen arbeitet.
+ die vielen verschiedenen Perspektiven.
+ die psychologischen Einblicke, die wir erneut bekommen und die menschlichen Abgründe, in die wir blicken dürfen. Wie auch schon in Band 1 ist das nicht immer leicht zu verdauen, geht es doch um Pädophilie und um den sexuellen Missbrauch von Kindern.
+ das Geschlechterverhältnis, das bereits viel ausgeglichener ist als noch im Auftakt. Von Beginn an kommen mehr Frauen vor, genügend Redezeit bekommen sie allerdings interessanterweise erst ab der Hälfte. Fast scheint es, als wäre dem Autor im letzten Moment noch meine Forderung (mehr Frauenfiguren, mehr Redezeit!) eingefallen und er hätte sich gedacht: „Jetzt aber schnell noch ein paar weibliche Dialoge einfügen!“ Naja, besser spät als nie, ich bin mit dem Fortschritt jedenfalls zufrieden! Hoffentlich geht es in Band 3 genau so weiter.
+ die melancholische Musik des Autors, die perfekt zur Stimmung passt. Sucht auf Youtube einfach nach „A Bird Called Melody“ von Jan Costin Wagner. Ihr werdet es nicht bereuen!

„Der Sommer ist echt. So unmittelbar, mehr geht nicht.“ E-Book, Position 32

Das lässt mich zwiegespalten zurück…

~ die komplexen Figuren mit ihren Stärken, Schwächen und Geheimnissen, die oft in moralischen Graubereichen existieren. Dieses Mal waren zum Glück die einzelnen Kapitel etwas stärker von der Persönlichkeit der jeweiligen Person gefärbt, trotzdem wäre es unmöglich gewesen, sie ohne die Kapitelüberschriften auseinanderzuhalten, weil sich ihre Denkweise immer noch viel zu ähnlich ist!
~ die Wendungen, die etwas vorhersehbar sind und mich nur selten überraschen konnten.
~ die Atmosphäre, die leider nicht so dicht, düster und vereinnahmend ist wie in Band 1.
~ die fehlende Tiefe. Da der Fall um den Kinderpornographie-Ring im Vorgänger-Krimi noch nicht abgeschlossen war, werden die Ermittlungen in diesem Band fortgesetzt. Thematisch stehen daher wieder Pädophilie und sexueller Missbrauch von Kindern (Triggerwarnung bitte ernst nehmen!), aber auch Polizeiarbeit, der innere Kampf mit sich selbst, Schuld, Moral und Rache im Mittelpunkt. Band 2 ist dabei dialoglastiger als der Auftakt und wirkte auf mich oberflächlicher und weniger tiefgründig als der Auftakt-Band, was mich etwas enttäuscht hat. Ob ich auch Band 3 wieder lesen werde, steht noch nicht fest.

„Ich bekämpfe … bekämpfe … auf der Seite …
Er lehnt sich zurück, schließt die Augen.
Ich bekämpfe, auf der Seite des Guten, das Böse.“ E-Book, Position 578

Das hat mir nicht gefallen…

- der Spannungsbogen. Mir ist zwar bewusst, dass es sich hier um einen Kriminalroman handelt und nicht um einen Thriller, aber etwas mehr Tempo und Spannung hätte ich mir trotzdem gewünscht. Stellenweise fühlte sich die Geschichte etwas zäh an, sie konnte mich leider nicht wie gewohnt fesseln und mitreißen.
- die Wandlung eines Ermittlers zum Täter. Einen Pädophilen zum Protagonisten eines Romans zu machen, ist mutig und riskant. Mit dieser Entscheidung hatte ich bisher kein Problem, denn: Da ich schon ein paar Dokumentationen über Pädophilie und freiwillige Präventionsprogramme gesehen habe, weiß ich, dass Betroffene für diese Neigung erst einmal nichts können, dass viele Menschen davon in ihrem Leben nie straffällig werden und dass der Großteil der Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern von Tätern begangen wird, die NICHT pädophil sind. Kein Verständnis habe ich aber mehr, wenn Täter (meist sind es Männer) sich dann dazu entscheiden, ihre Neigungen auszuleben und Kindern zu schaden. Diese Grenze wird in diesem Buch eindeutig überschritten, als einer der Ermittler einen USB-Stick (Beweisstück) von einem Tatort entwendet und die Missbrauchsdarstellungen als Pornographie nutzt. Als Opfer hat man es doch schwer genug, wie ekelhaft ist es da bitte, wenn der Polizist, dem du vertraust, so mit diesen sensiblen Daten, mit deinem traumatischen Erlebnis umgeht? Später missbraucht der Polizist auch noch einen Jungen und bezahlt ihn im Anschluss dafür – bei den Beschreibungen seiner inneren Hin- und Hergerissenheit, bei seinen erbärmlichen Rechtfertigungsversuchen und Relativierungen und seinem sooo unglaublich schlechten Gewissen wurde mir übel und ich hatte so einen inneren Widerwillen und so eine Wut im Bauch, dass es mir die ganze restliche Lektüre verdorben hat. Ich kann nur hoffen, dass dieser Polizist im Folgeband ohne Relativierungen als das dargestellt wird, was er ist – nämlich ein Täter – und dass er gefasst und zur Verantwortung gezogen wird. Es ist aus meiner Sicht an diesem Punkt keine andere Art von „redemption“/Rettung/Wiedergutmachung (wie etwa ein Einsehen des Fehlers und ein Arbeiten an sich selbst) mehr für diese Figur möglich! Herauszufinden, wie mit dem Täter in Band 3 umgegangen wird, wäre auch meine Hauptmotivation, das nächste Buch zu lesen.

Mein Fazit

Auch „Am roten Strand“ (Band 2) überzeugt wieder mit seinem ungewöhnlichen, intensiven, literarischen Schreibstil, seinen sprachlichen Bildern und den Einblicken in menschliche Abgründe. Verbessert hat sich die Fortsetzung bei der Frauenquote, verschlechtert hat sie sich leider in den Bereichen Spannung, Tiefe und Atmosphäre. Da einer der Ermittler immer stärker selbst zum Täter wird, ist Band 2 sogar noch schwerer zu verdauen als der Auftakt – behaltet das bitte im Hinterkopf, wenn ihr das Buch lesen wollt! „Am roten Strand“ ist kein schlechter Kriminalroman (wer „Sommer bei Nacht“ mochte, kann ihm durchaus eine Chance geben) – ich habe nur einfach mehr erwartet und bleibe deshalb etwas enttäuscht zurück.

Bewertung

Idee: 4 Lilien
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Tiefe: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 3 Lilien
Einstieg: 3 Lilien
Ende: 4 Lilien
Schreibstil: 5 Lilien ♥
Figuren: 3,5 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Tempo: 3 Lilien
Wendungen: 3 Lilien
Atmosphäre: 3 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 4 Lilien
Einzigartigkeit: 4 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3 Lilien!