Rezension

Life is not a walk across a field

The Noise of Time - Julian Barnes

The Noise of Time
von Julian Barnes

Bewertet mit 5 Sternen

"The Noise of Time”, der neueste Roman von Julian Barnes, gehört zum Genre der fiktionalen Biographie. Barnes erzählt die Lebensgeschichte des russischen Komponisten und Pianisten Dimitri Schostakowitsch. Es handelt sich jedoch nicht um eine zusammenhängende chronologische Erzählung. Vielmehr konzentriert sich der Autor auf drei entscheidende Phasen im Leben des Komponisten, die zugleich Krisen sind, denn jedes Mal gerät er ins Visier des Systems.

Der 1. Abschnitt („On the Landing“) bezieht sich auf das Jahr 1936. Gerade ist die Oper „LadyMacbeth“ in einem Artikel in der Prawda verrissen worden, der vielleicht von Stalin selbst verfasst worden ist. Daraufhin steht der Komponist nächtelang mit einem Köfferchen vor dem Aufzug im 5. Stock seines Wohngebäudes und wartet auf die Geheimpolizei, die ihn zum Verhör bringen und ihn nach einem erpressten Geständnis töten wird. Er kommt noch einmal davon, lebt aber fortan in Angst um sich und seine Familie.
Das 2. Kapitel („On the Plane“) bezieht sich auf eine weitere Krisensituation. Schostakowitsch ist gegen seinen Willen Mitglied der russischen Delegation bei einem Kongress in den USA. Er muss Reden mit Schmähungen aller Art verlesen, die er nicht geschrieben hat und sich im Interview Punkt für Punkt ausdrücklich zu den geäußerten Ansichten bekennen. Alles Andere wäre glatter Selbstmord.
Im 3. Abschnitt („In the Car“) ist er ein alter Mann mit angegriffener Gesundheit. Er ist allerdings zu einigem Ansehen gekommen und hat einen Wagen mit Chauffeur. Wir haben das Jahr 1960. Wieder wird Schostakowitsch massiv unter Druck gesetzt. Er soll den Vorsitz bei der Vereinigung der russischen Komponisten übernehmen, was die Parteimitgliedschaft voraussetzt. Er weigert sich vergeblich und muss damit auch die letzte Bastion des Widerstands aufgeben.
In allen drei Abschnitten gibt es zahlreiche Rückblenden sowie Episoden, literarische Anspielungen, vor allem Gedichtzeilen, Redensarten und Metaphern, die häufig wiederholt werden. Große Teile seines Lebens werden dagegen ausgespart. Der Leser erfährt kaum etwas über das Verhältnis des Komponisten zu seinen Kindern, und er besucht das Grab seiner Frau Nita, ohne dass wir bis zu diesem Augenblick etwas über eine Krankheit oder ihren Tod gelesen hätten.
Die zentralen Themen in diesem schmalen Bändchen sind andere. Schostakowitsch schämt sich zeit seines Lebens dafür, dass er sich den Mächtigen nicht mutig widersetzt, dass er sich immer wieder benutzen lässt. Er ist zunehmend verzweifelt, denkt oft an Selbstmord und wird immer verbitterter. Er weiß, dass er alles tun würde, um sein Leben zu retten, aber damit rettet er auch andere, die mit ihm untergehen würden: Familienangehörige, Freunde und Bekannte, die Musiker, die seine Musik gespielt haben. Er ist dennoch enttäuscht von sich selbst und wünschte, er hätte nicht so lang gelebt (“… he despised being the person he was, on a daily basis. He should have died years ago“ S. 136). Seine Karriere als Opernkomponist, wo er glaubt, die größten Werke schaffen zu können, wurde von den Machthabern frühzeitig beendet. Schostakowitsch hofft, dass die Nachwelt zwischen seiner guten Musik und der schlechten linientreuen Auftragsmusik unterscheiden, dass man generell sein Werk von seiner Biographie getrennt sehen wird. „What he hoped was that death would liberate his music: liberate it from his life.” (S. 179)
Erzählt wird aus der Sicht von Schostakowitsch. Der Erzähler gewährt tiefen Einblick in die Gedanken und Gefühle des Protagonisten. Dadurch wird die Darstellung des lebenslangen Dilemmas, irgendwo zwischen Integrität und Korruption einen künstlerischen Mittelweg zu finden, der es ihm nicht nur erlaubt zu überleben, sondern außerdem ein bedeutendes musikalisches Werk zu schaffen, sehr berührend und für den Leser absolut nachvollziehbar. Immer wieder ist auch Raum für Kritik an westlichen Intellektuellen, die mit dem Stalinismus sympathisieren und die Millionen Opfer von Hunger und Säuberungsaktionen ignorieren. Andere begreifen nicht, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben und fordern in ihrer Naivität einen mutigen Kampf gegen die Tyrannei. Sie wollen Märtyrer sehen, aber sie sind schließlich nicht diejenigen, die sterben.
Barnes gelingt ein sehr lesenswertes Porträt eines bedeutenden Komponisten und seiner Zeit.