Rezension

Literarisches Spiel mit der Wahrheit

Die schiere Wahrheit -

Die schiere Wahrheit
von Ursula Hasler

Bewertet mit 4 Sternen

REZENSION - „Die Wahrheit wirkt nie wahr.“ Nur die arrangierte Wahrheit wirke wahrer als die nackte Wahrheit, lässt Autorin Ursula Hasler (71) den Schriftsteller Georges Simenon in ihrem zweiten Roman „Die schiere Wahrheit“ über das Schreiben eines Krimis philosophieren. Was ist also Wahrheit? Die promovierte Germanistin und frühere Professorin am Züricher Institut für Angewandte Medienwissenschaft macht sich in ihrem Ende August beim Limmat Verlag veröffentlichten zweiten Roman einen wundervollen Spaß daraus, mit dieser Wahrheit zu spielen, wenn auch die Idee des Buches nicht neu ist: Ähnlich wie Michael Dangl in seinem im Januar erschienenen Roman „Orangen für Dostojewskij“ den russischen Schriftsteller im Jahr 1862 mit dem weltberühmten Komponisten Gioachino Rossini in Venedig fiktiv zusammenbringt, so lässt die Schweizer Autorin den belgischen Kriminalschriftsteller Georges Simenon (1903-1989) im Sommer 1937 im französischen Atlantik-Badeort Saint-Jean-de-Monts auf seinen Schweizer Kollegen Friedrich Glauser (1896-1938) treffen.
Der von Drogenabhängigkeit und Anstaltsaufenthalten zerrüttete Glauser (41) - im Vorjahr mit seinem zweiten Wachtmeister-Studer-Krimi „Matto regiert“ endlich zu erster Anerkennung gekommen - wird mit dem zwar jüngeren, nach 18 Maigret-Krimis aber schon berühmten und von Glauser als „Lehrmeister“ verehrten Georges Simenon (34) bekannt gemacht. Beide Autoren finden Gefallen aneinander und entwickeln nun bei Strandspaziergang und Mittagessen einen Kriminalroman, zu dem jeder seine Ideen beisteuert: Simenon legt einen Toten an den französischen Strand, Glauser macht aus der Leiche einen Schweizer, um seinen Wachtmeister Studer, „das Salz der Berner Kantonspolizei“, an den Atlantik holen zu können. Simenon lässt ihm seine ältliche Mademoiselle Amélie Morel dazwischenfunken. Die gelernte Krankenschwester und Tante des vor Ort eigentlich zuständigen Inspektors Laurent Picot ähnelt in ihrer Art Agatha Christies Miss Marple.
Immer wieder wird die Kriminalgeschichte unterbrochen, wenn beide Schriftsteller über das Wesen des Schreibens, über Kritiker und Leser, über Recht und Gerechtigkeit und eben über die Frage nach der Wahrheit philosophieren. Gerade diese eingestreuten Kapitel geben Haslers Roman seinen literaturwissenschaftlichen Reiz, erfahren wir doch viel über die beiden Autoren, die sich in ihren Vorstellungen und ihrer Arbeitsweise verwandt und von den Lesern oft verkannt fühlen. Beide sehen in einem Krimi mehr als die Lösung eines schlichten Rätsels: Simenon „interessiert das Leben dieser Menschen“ und auch Glauser will sehen, „wie es seinen Leuten beliebt zu leben.“ Da kann es passieren, dass die Figuren ein Eigenleben entwickeln und der Autor am Ende „hundert Fäden, die lose herumhängen“, zusammenführen muss, um die Geschichte sinnvoll zum Ende zu bringen. Doch wie zu erwarten lösen Wachtmeister Studer und Mademoiselle Amélie den Fall, „der sich hartnäckig weigerte, einer zu werden“, da Glauser zu Simenons Überraschung unbedingt noch eine unerwartete Wendung einbauen musste.
Hasler ist es überzeugend gelungen, sich in die beiden Schriftsteller hineinzudenken und in deren unterschiedlichen Sprachstil einzufühlen, wodurch der Roman auf beiden Handlungsebenen so realistisch wirkt, als wäre es „die schiere Wahrheit“. Es macht Spaß zu beobachten, wie Fiktion und Realität verschmelzen. Nicht nur, dass sich Simenon und Glauser bei ihrer Geschichte von ihrer realen Umwelt inspirieren lassen. Am Ende vermischen sich Fiktion und Realität sogar vollends, wenn die beiden realen Kriminalschriftsteller nach Abschluss ihres fiktiven Treffens plötzlich ihren doch nur erfundenen Ermittlern wahrhaftig gegenüberstehen.