Rezension

Mail-Chat als Spiegel unserer Zeit

Liebes Arschloch -

Liebes Arschloch
von Virginie Despentes

Bewertet mit 4 Sternen

Dieser Roman war in Frankreich ein Bestseller und ist jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen. Es ist ein moderner Briefroman, in dem drei Protagonisten, Oscar, 43, Schriftsteller, und Rebecca, über fünfzig, berühmte Schauspielerin, per Mail  und Zoé, eine junge Frau Anfang 20, per Blog interagieren. 
Während Zoés Tätigkeit als Pressereferentin in dem Verlag, der Oscars Romane herausgibt, wird Oscar ihr gegenüber sexuell übergriffig, was  den Ausgangspunkt des Romans bildet.
Nachdem Oscar Rebecca in einem Feed auf Instagram beleidigt, geht es los mit den Mails zwischen den beiden. Zwischen die Mails von Oscar, wie es scheint, zweifellos ein echtes Arschloch, und Rebecca, der alternden und sehr bekannten Schauspielerin, sind immer wieder die Blogs von Zoé eingestreut. Durch diese Mails und Blogs erschließen sich die  privaten und beruflichen Verstrickungen der drei und ihre Probleme untereinander und mit sich selbst. Rebecca und Oscar verbindet eine teilweise gemeinsame Jugend, aber vor allem ihre Abhängigkeit von Drogen aller Art.
Thematisiert werden, abgesehen vom Hauptstrang der sexuellen Übergriffigkeit: Mobbing im Internet, Sucht, Feminismus, Älterwerden in einer auf jung und schlank getrimmten Gesellschaft, soziale Herkunft und sozialer Status mit den diversen Wechselwirkungen aufeinander, die Corona Pandemie.  Uff ! Könnte man jetzt meinen, aber erstaunlicherweise, so habe ich es jedenfalls empfunden, liest sich das Ganze gut. Wahrscheinlich auch wegen der unterschiedlichen Perspektiven von Oscar, Zoé und Rebecca auf die Welt, in der sie leben, in der wir alle ja leben und damit auf die Probleme unserer Zeit. Es sind natürlich auch immer die Probleme, die sich jeder selbst irgendwie macht. 
Die Sprache ist ruppig und bringt manche Befindlichkeit drastisch auf den Punkt. So etwa: " Ich komme mir vor wie ein gut getrimmter Rasen in einem kleinbürgerlichen Provinzvorgarten...lieber verrecken, als Yoga machen, definitiv " oder "welche Schande, einer Person freundlich zu begegnen, die eigentlich eins auf die Fresse verdient". Ja, Virginie Despentes wurde auch als Punk der französischen Literaturszene bezeichnet. Dies ist der erste Roman, den ich von ihr gelesen habe, und außer Punkelementen habe ich auch Versöhnliches in dem Briefwechsel entdeckt.
Gegen Ende scheinen Rebecca und Oscar "verdammt gute Freunde zu werden". Auf der Strecke bleibt Zoé, die den sozialen Medien verfallen zu sein scheint. Man findet sich in der einen oder anderen Figur durchaus wieder, ohne sich vollständig mit einer von ihnen solidarisieren zu wollen.
Ich habe den Roman mit großem Vergnügen gelesen und kann die Lektüre nur empfehlen. Ich vergebe 4 Sterne.