Rezension

Manchmal braucht das Glück etwas länger und kommt in ganz unerwarteter Gestalt

Man darf mit dem Glück nicht drängelig sein -

Man darf mit dem Glück nicht drängelig sein
von Kirsten Boie

Bewertet mit 4 Sternen

Dieser Urlaub sollte eigentlich ein ganz besonderer für Anna, Magnus und Linnea werden. Mama hat ein wunderbares, kleines rotes Ferienhaus in Schweden gemietet. Doch dann bekommt sie die Möglichkeit, eine langersehnte Fortbildung zu machen und Papa, der mit seiner neuen Freundin in Bremen lebt, soll an ihrer Stelle mit den Kindern in das Häuschen fahren. Papa hat leider so gar keine Lust auf diesen Urlaub. Und dann muss auch noch ausgerechnet Friedrich, der Sohn von Papas neuer Freundin, dazustoßen. Den findet Anna absolut unerträglich. Das läuft ja dann wohl auf den schrecklichsten Urlaub aller Zeiten hinaus. Oder etwa doch nicht?

 

Autorin Kirsten Boie erzählt gut verständlich, klar und sehr direkt aus Annas Sicht. Sie scheut sich nicht davor, auch Schimpfwörter und Kraftausdrücke zu verwenden, denn so reden Kinder eben manchmal. An Linneas permanentes „Du Dummi“ oder den wiederholt gebrauchten Ausdruck „Scheißkerl“ muss man sich beim Lesen erst einmal gewöhnen. Sicher durchaus authentisch, aber natürlich keine „schöne Sprache“.
Das Buch ist für Kinder ab zehn Jahren geschrieben, aber auch ein bisschen für deren Eltern. Mir fällt eine konkrete Alterseinschätzung schwer, denn die „Botschaft“ ist nicht ganz einfach zu umreißen. Über Linnea und Magnus amüsieren sich auch schon jüngere Kinder beim Vorlesen, die dann möglicherweise Annas komplizierte Situation und ihre Zerissenheit nur teilweise erfassen. 

 

In Anna, die sehr klar und deutlich macht, wie sie sich fühlt, können sich die Leser wahrscheinlich problemlos hineinversetzen. Sie ist ein ganz normales, sensibles Mädchen, das mit ihrer neuen Situation „getrennte Eltern und neue Partnerin des Vaters“ Schwierigkeiten hat. Einerseits ist sie recht unkompliziert, hilft freiwillig im Haushalt und übernimmt wie selbstverständlich Verantwortung für die kleinen Geschwister. Andererseits reagiert sie sehr heftig auf die neue Partnerin ihres Vaters und deren Sohn. Sie fühlt sich zurückgesetzt und missverstanden und diese Empfindungen sind durchaus nachvollziehbar. Annas Gefühlsleben wird verständlich und authentisch dargestellt.
Annas Bruder Magnus ist extrem tierlieb, sensibel und harmoniebedürftig. Er reagiert oft wie ein typisches Sandwichkind, recht verletzlich, zeigt sich aber auch sehr tolerant, ausgleichend und mitfühlend.  
Anders Linnea, die zwar in ihrer Naivität oft sehr drollig wirkt, aber regelmäßig und sehr direkt andere beschimpft. Sie benimmt sich wie Vierjährige das häufig tun, „eigensinnig“ und willensstark.  
Papa ist leider ein etwas unangenehmer, unzugänglicher Charakter. Er steckt in der Zwickmühle, möchte für seine neue Partnerin Irene da sein, hat aber seinen Kindern gegenüber eine Pflicht zu erfüllen. Er schafft es oft nicht, sich rücksichtsvoll und mitfühlend zu verhalten und Geduld zu beweisen. Zu seinen Kindern hält er Distanz, weswegen Linnea ihn auch nicht Papa, sondern „Herr Schulze“ nennt. Er wirkt sehr hilflos und vermittelt oft den Eindruck, dass er keinen Wert darauf legt, mit den Kindern zusammen zu sein. Das macht die Situation sehr schwierig für alle.  
Ein Lichtblick ist Friedrich, der Sohn von Papas neuer Freundin Irene. Auch für ihn ist dieser Urlaub alles andere als einfach. Er reagiert aber sehr verständnisvoll, ziemlich bewundernswert, baut zu den anderen eine „Brücke“. Friedrich wirkt sehr reif für sein Alter.

 

Der Titel passt ganz prima: „Man darf mit dem Glück nicht drängelig sein“. Noch blitzt das Glück nur an manchen Stellen im Buch hervor. Anna genießt besondere Glücksmomente, aber sie erlebt auch viele unangenehme, deprimierende, wütendmachende Situationen. Gegen Ende erkennt sie, dass man anderen Menschen eine Chance geben muss und sie doch ganz anderes sein können als man denkt. Es ist am Schluss noch nicht alles ganz gut, aber vieles besser. Manchmal braucht das Glück eben seine Zeit. Und zwischendrin gibts trotz der vielen traurigen Unstimmigkeiten auch sehr viel zu lachen. Zum Beispiel über Linnea, die zwar sehr harsch und direkt ist, aber auch immer wieder die Dinge erstaunlich präzise auf den Punkt bringt. Sie weiß und erfasst intuitiv mehr, als man ihr zutraut. Auch Magnus bringt zum Schmunzeln, denn seine Tierliebe geht ganz schön weit und lässt ihn ziemlich amüsante Rettungsaktionen durchführen.
Keine Käsekuchenglücksgeschichte mit dickem rosa Zuckerguss, sondern eine tiefgründige Erzählung mitten aus dem Leben mit Substanz, die trotz der schönen Momente auch nachdenklich stimmt und Probleme direkt anspricht. Vor allem auch zum gemeinsamen Vorlesen geeignet. Die anschließenden Gespräche mit Kindern über das Buch werden mit Sicherheit sehr interessant und bereichernd ausfallen.