Rezension

Mitreißende, flott lesbare Reportagen aus 15 afrikanischen Staaten

Jenseits von Europa -

Jenseits von Europa
von Sophia Bogner

Bewertet mit 4.5 Sternen

Mit 24 Jahren hatte die Informatikerin Samrawit Fikru alles satt. Jeden Abend wartete sie nach der Arbeit auf ein Taxi; denn sichere und erschwingliche Verkehrsmittel gab es 2014 in Äthiopien nicht. Entweder fand sie erst gar kein Taxi oder wurde von unzuverlässigen Fahrern abgezockt. Mit ineffektiven Staatskonzernen und erstarrten Strukturen, die keine Veränderungen zuließen, war es in ihrer Heimat „schon immer so“ gewesen. Wie die Wirtschaft eines Landes wachsen kann, in dem nichts funktioniert, fragt man sich besser nicht. Schon als Informatikstudentin war die junge Frau mit der Idee eines effektiven Warenwirtschaftsprogramms gescheitert, weil Unternehmen es zwar nutzen, aber nicht bezahlen wollten. Die Idee, dass regelmäßige Inventuren dem täglichen Schlendrian ein Ende bereitet hätten, Firmeneigentum auf eigene Rechnung zu verscherbeln, liegt nahe. Doch dieses Mal trifft Samrawit Fikru mit ihrer Ride-Sharing-App mitten ins Schwarze. Schließlich ist der gesamte Kontinent Afrika notgedrungen Geburtsort von Ride-Sharing. Samrawits App bietet ihren Usern sicheren Transport, faire Preise auf vorgeschriebenen Strecken und den Fahrern planbare Arbeitstage bei sicherem Einkommen. Die junge Nation, die von alten Männern regiert wird, ist allerdings noch nicht bereit, eine kluge junge Frau im Geschäftsleben zu ertragen. Vor der Nutzung der App liegt der Kampf gegen verkrustete Strukturen und einen einflussreichen Männerbund, genannt Taxifahrer-Lobby.

Sophia Bogner und Paul Hertzberg beklagen in der Einleitung ihres hochinteressanten Buches ein Desinteresse deutscher Medien an Afrika-Themen, das sie feststellen mussten, wenn sie als freie Journalisten ihre Reportagen verkaufen wollten. Allein, dass meist undifferenziert von „Afrika“ gesprochen wird, wenn nur einer oder wenige der 55 Staaten gemeint sind, zeigt bereits, wie fern afrikanische Angelegenheiten uns Europäern sind. Die Kartenausschnitte vor den 15 Kapiteln in „Jenseits von Europa“ zeigen einen Cluster weniger Staaten, aus denen sie berichten und der sich in Zentralafrika vom Senegal bis Äthiopien zieht, ergänzt von 3 Staaten im südlichen Afrika. 40 weitere Staaten bleiben jedoch weiß.

15 Biografien von Start-Up-Talenten stellen jeweils Persönlichkeiten vor, die mit ihrer Geschäftsidee ein Problem anpackten, das zuvor unlösbar erschien. Wie sollen Unternehmen Waren und Dienstleistungen liefern, wenn die Treibstoff- und Stromversorgung unzuverlässig ist, wie überhaupt arbeiten, wenn zunächst die Straße zum Firmengelände selbst angelegt werden muss? Vom Mangel an zuverlässigem Personal noch nicht zu sprechen. Die Branchen reichen vom Warentransport, Sicherheitsgewerbe, über Solarenergie, Mode, Naturschutz, lokale Fernsehprogramme, diverse Software bis zum Mineralölhandel in einheimischer Hand. Auch wenn die Auswahl herausragend talentierte Frauen zeigt (Frauen sind seltener kriminell, weil sie Kinder zu versorgen haben), sind die Hälfte der Start-Up-Talente Männer. Nicht alle Personen sind Schwarz; denn zur Kultur afrikanischer Staaten gehören als Erbe der ehemaligen Kolonialherren auch im Land geborene Weiße …

Es geht bei den vorgestellten Geschäftsideen häufig um Vertrauen, Zuverlässigkeit und die Fähigkeit das eigene Geschäft im großen (sozialen) Zusammenhang zu sehen. Gerade die Unternehmerinnen pochen auf Zero Toleranz gegenüber Schlamperei und Korruption. Ihre Angestellten jedenfalls sind mit Zuverlässigkeit und Korrektheit wirtschaftlich erfolgreicher als im alten Schlendrian, der zuvor ganze Volkswirtschaften lähmte. Bogners und Herzbergs Interviewpartner*innen haben gelernt, dass sie selbst von der Pieke auf ausbilden und sich in ihren Unternehmen wirklich um alles selbst kümmern müssen. Ihre Arbeit wird oft nur geschätzt, wenn sie etwas kostet – und ganz besonders beharrlich müssen offenbar Schwarze Frauen sein, die etwas auf die Beine stellen wollen.

Die Reportagen haben einen hohen Wiedererkennungswert für Leser*innen, die auf dem afrikanischen Kontinent Erfahrungen mit Bürokratie und Schlendrian aller Art machen konnten. Bogner/Hertzberg wecken das Bewusstsein für allzu bequeme Afrika-Klischees aus europäischer Sicht und verdeutlichen, dass Lösungen lokaler Probleme „von unten“ kommen müssen, von der Generation Samrawit Fikrus. In Europa verwöhnt davon, uns bisher nicht um die Straße zu unserem Arbeitsplatz und die Energieversorgung selbst kümmern zu müssen, können die Unternehmer*innen-Porträts Anreiz sein, selbst agiler zu denken und sich verkrusteter Strukturen bewusst zu werden. Mitreißende, flott lesbare Reportagen hinter einem leider nichtssagenden Buchcover.