Rezension

Mitten ins Herz

Unter Brüdern
von Pete Dexter

Handlungsort von Pete Dexters neuem Roman „Unter Brüdern“ ist Philadelphia, die Metropole im amerikanischen Osten, die den Beinamen „City of Brotherly Love“ trägt. Und „Brotherly Love“ ist auch der amerikanische Titel dieses Buches, das im Original bereits 1991 erschienen ist, aber erst jetzt in der deutschen Ausgabe vorliegt. An dieser Stelle muss ausdrücklich der Übersetzer Götz Pommer erwähnt werden, der hier sehr gute Arbeit abliefert.

Es sind zwei große Themen, die der Autor im Visier hat und die den Roman bestimmen: einerseits werden individuelle Schicksale betrachtet, andererseits aber auch die Seilschaften und kriminellen Organisationen rund um die amerikanische Gewerkschaftsbewegung in Philadelphia. Der Handlungszeitraum liegt zwischen 1961 und 1986, die Hauptfigur ist Peter Flood, Sohn eines irischen Gewerkschaftlers.

Ein kurzer Einschub zu den Themen „Iren“ und „Gewerkschaften“ in den sechziger Jahren in Philadelphia, wahrscheinlich auf jede amerikanische Großstadt an der Ostküste anwendbar. Italiener und Iren haben die Stadt unter sich aufgeteilt, wobei der Einflussbereich der ersteren die Straßen sind. Die Iren hingegen kontrollieren die Gewerkschaften und deren Mitglieder, und hier ist jede Menge Geld im Spiel. Rivalitäten und Machtkämpfe sind an der Tagesordnung, und manchmal verschwindet jemand, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Diese Erfahrung muss Peter machen, dessen Familie nach einem Unfall, der den Tod seiner kleinen Schwester zur Folge hat, auseinanderbricht. Seine Mutter verfällt zunehmend in Depressionen und verschwindet, ebenso sein Vater, nachdem er den Unfallverursacher zur Rede gestellt und getötet hat. Allein auf sich gestellt, nimmt die Familie seines Onkels Phil ihn auf. Deren Sohn Michael ist im gleichen Alter, und so wachsen die beiden Jungen wie Brüder auf, was der Onkel immer wieder betont.

Mit der Familie ist das so eine Sache, einerseits ist Peter natürlich froh, dass sich jemand um ihn kümmert, andererseits hegt er aber den Verdacht, dass sein Onkel nicht ganz unschuldig an dem Tod seines Vaters ist. Und seinen großmäuligen Cousin mag er überhaupt nicht. Nach außen hin gibt Peters Verhalten keinen Grund zur Klage, aber er fühlt sich noch immer für den Tod seiner Schwester verantwortlich, auf die er hätte achten müssen. Die Bilder des Unfalls verfolgen ihn, ihr Schweben durch die Luft, und schließlich der tödliche Aufprall. Durch Sprünge in Basejumper-Manier, ohne Netz und doppelten Boden, stellt er für sich die Situation immer wieder nach. Ihm geschieht nichts, es gibt keine ernsthaften Verletzungen. Diese lauern in seinem Innersten, und so zieht er sich immer mehr in sich zurück, fühlt sich einsam und verloren. Und daran ändert auch der Lauf der Jahre nichts.

Natürlich unterstützt er seinen Onkel bei dessen Geschäften, und als dieser schließlich gewaltsam ums Leben kommt, gilt seine Loyalität seinem Cousin Michael. Obwohl er ein zutiefst moralischer Mensch  mit einem ausgeprägten Gefühl für Richtig und Falsch ist, macht er sich die Hände schmutzig. Und ahnt, dass es ein böses Ende nehmen wird – was so auch eintrifft, wie man bereits aus der Anfangssequenz weiß.

Pete Dexter schildert Peters Geschichte vom Erwachsenwerden. Die Sprache ist nüchtern, der Stil klar und die Ereignisse werden sachlich geschildert. Aber unter der Oberfläche toben die Emotionen, sowohl bei Dexters Protagonisten als auch bei dem Leser. „Unter Brüdern“ ist ein aufwühlender, ein gnadenlos guter Roman, der mitten ins Herz trifft.