Rezension

Momente des Alltags

Cold Spring Harbor - Richard Yates

Cold Spring Harbor
von Richard Yates

Bewertet mit 4.5 Sternen

Charles und Grace Shepard leben in den 1940er-Jahren im Städtchen Cold Spring Harbor auf Long Island. Sie sorgen sich um Sohn Evan, der nach einer wilden Pubertät und einer früh gescheiterten Ehe nicht recht auf die Beine kommt. Da lernen sie zufällig Familie Drake kennen. Während die trinkfreudige Mutter Gloria Charles anhimmelt, der für sie den Lockruf des »alten Geldes« verkörpert, verliebt sich Evan in Glorias Tochter, die stille, schöne Rachel. Nach einer kurzen Verlobungszeit heiraten sie, doch das Haus in Cold Spring Harbor müssen sie sich mit Gloria teilen. Ein Roman über Väter und Söhne, Mütter und Töchter, die Liebe und die Fehler der Jugend. Meisterhaft und mit nur wenigen Pinselstrichen gelingt es Richard Yates, »einem der wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts« (FAZ), psychologische Fallstricke, Lebenslügen und Selbstbetrug im Amerika der 1940er-Jahre aufzudecken – und dabei doch immer auch ein Herz für seine Figuren zu haben. (von der DVA-Verlagsseite kopiert)

Es sind vor allem die amerikanischen Autoren (Tyler, Hoffman, O’Nan, auch Irving), die das Genre des Familienromans auf eine ganz besondere Weise beherrschen: Sie stellen eine „normale“ Familie in den Mittelpunkt und betrachten das Außergewöhnliche, das Einzigartige jedes Einzelnen. Sie entwickeln das Beziehungsgeflecht und die Entwicklungen ihrer Figuren aus dieser Individualität. Und: Kein Erzähler wertet oder kommentiert, die Personen sprechen und handeln für sich.

„Cold Spring Harbor“ ist ein Paradebeispiel für diese Art des Erzählens. Sohn Evan, viel zu jung verheiratet und Vater, schnell geschieden macht denselben Fehler noch mal, heiratet die junge unbedarfte Rachel, bekommt ein Kind mit ihr und würde doch viel lieber seine beruflichen Träume wahr machen und Maschinenbau studieren. – Das Motiv des jungen Ehemannes, der sich an seiner Arbeitsstelle unzufrieden fühlt und gerne höher hinaus will, aber wegen seiner Familie Geld verdienen muss, erscheint bei Yates nicht zum ersten Mal.

Weitere Motive, unverkennbar vom Autor der eigenen Biographie entlehnt, entdeckt man: Dauernde Umzüge und Wohnortwechsel. Gloria, Rachels Mutter, mutet ihren Kindern (ebenso wie Yates’ Mutter) zu, sich alle paar Jahre neu zu orientieren, ihre Freunde zu verlassen und sich an neuen Schulen zurechtzufinden.

Auch das Problem, jeden Cent umzudrehen und dennoch mit Einschränkungen gerade genug zum Leben zu haben, kannte der Autor persönlich.

Yates war Alkoholiker und in jedem seiner Romane tauchen Figuren auf, die trinken. Hier sind es Gloria, deren ausgeprägte Schwatzhaftigkeit von ihren Drinks befeuert wird. Und Grace, Evans Mutter, die sich hinter einer unbekannten psychischen Schwäche versteckt (heute würde man „Depression“ vermuten), das Haus nicht verlässt und ohne die Fürsorge ihres Ehemanns nicht überlebensfähig wäre.

Charles, Evans Vater, und Rachels Bruder Phil sind die Sympathieträger. Der Vater, der trotz jugendlicher Eskapaden und übereilter Familiengründungen unbeirrbar zu seinem Sohn hält und ebenso treu und aufopfernd mit seiner Frau  umgeht. Und Phil, der von Gleichaltrigen oft gehänselt wird, der die Schwächen seiner Mutter und die von Freunden und Bekannten klar erkennt, geht beharrlich seinen Weg. Trotz anfänglicher Skepsis nähert er sich seinem Schwager Evan allmählich an.

Yates’ Figuren trotten im Alltag vor sich hin und sind dankbar für Abwechslung und kleine glückliche Ereignisse. Doch die kleinen zufriedenen Momente sind teuer; oft erkauft mit Vertuschung, Unehrlichkeit und versteckten Begehrlichkeiten. Man träumt oder trinkt sich sein gewohntes Leben glänzender und aufregender als es ist, und erhofft oder verlangt von anderen, dass sie die Leere füllen oder das dumpfe Schicksal aufwerten.

Es sind die leisen Zwischentöne menschlicher Beziehungen und ihrer Muster, von denen Yates meisterhaft erzählt. Ein Glück für Leser, dass seine Werke wieder entdeckt und übersetzt wurden.