Rezension

Monstermäßige Trauerbewältigung

Sieben Minuten nach Mitternacht - Siobhan Dowd, Patrick Ness

Sieben Minuten nach Mitternacht
von Siobhan Dowd Patrick Ness

Bewertet mit 5 Sternen

~°..“Großer“, sagte sein Vater und beugte sich zu ihm vor. „Geschichten gehen nicht immer gut aus.“ Zitat, Seite 144..°~

Conor O´Malley ist 13 Jahre alt, als sich seine Mum bereits im Endstadium ihres Krebsleidens befindet. Es erfüllt ihn mit großem Kummer, sie so hilflos zu sehen. Sie wird mit jedem Tag schwächer. Der baldige Verlust liegt ihm derart schwer auf der Seele, dass er das Gefühl hat, als erdrücke der Schmerz ihn. Seit dem Beginn ihrer Behandlungen quält ihn jede Nacht ein schlimmer Alptraum. Ein Alptraum, der ihn immer wieder angsterfüllt und schweißgebadet aufwachen lässt. Der ihn nicht nur mit seinen Ängsten und schlimmsten Befürchtungen konfrontiert, sondern auch mit einem großen Wunsch, der ihn unendliche Schuldgefühle bereitet. Dem Wunsch, seine Mutter endlich loslassen zu können. Loslassen zu dürfen, obwohl er sie unendlich liebt. Er möchte das Leid einfach beenden, sowohl für ihn als auch für sie.

„Wer ich bin?, wiederholte das Monster, immer noch brüllend. Ich bin das Rückgrat, auf dem die Berge ruhen! Ich bin die Tränen, die die Flüsse weinen! Ich bin die Lunge, die den Wind atmet! Ich bin der Wolf, der den Hirsch, der Habicht, der die Maus, die Spinne, die die Fliege tötet! Ich bin der Hirsch, die Maus und die Fliege, die gefressen werden! Ich bin die Schlange der Welt, die ihren eigenen Schwanz verschlingt! Ich bin alles Ungezähmte und Unzähmbare! Es sah Conor direkt in die Augen. Ich bin die wilde Erde selbst, und ich bin deinetwegen hier, Conor O´Malley.

Zitat, Seite 44

Als sich eines Tages die Elbe im Garten zu einem Monster verwandelt und nach seinem Namen rufend durch das Fenster in sein Zimmer hereinblickt, zweifelt er an seinem Verstand. Es erscheint exakt sieben Minuten nach Mitternacht. Als Conor merkt, dass es scheinbar nicht nur seiner Fantasie entspringt, beginnt er sich frech und aufmüpfig mit ihm zu unterhalten. Denn das Monster erschreckt ihn nicht. Es ist nicht das, was er erwartet hatte. Nicht das Monster aus seinem Alptraum. Was will es von ihm? Es scheint eine Mission erfüllen zu wollen.
Was ihn dabei erschreckt, ist die Tatsache, dass es sowohl seinen Alptraum als auch seinen innigsten Wunsch kennt. Dinge, die es eigentlich nicht wissen dürfte, weil Conor sie nie jemandem erzählt hatte. Das Monster will ihm im Verlauf seiner nächtlichen Besuche drei Geschichten erzählen. Nach diesen drei Geschichten, fordert er eine vierte von Conor. Die Wahrheit. Conors Wahrheit.

„Geschichten sind wilde Wesen, sagte das Monster. Wer weiß, was für Unheil sie anrichten können, wenn man sie loslässt?“

Zitat, Seite 61

„Es gibt nicht immer einen Guten. Genauso wenig, wie es immer einen Bösen gibt. Die meisten Menschen sind irgendwas dazwischen.

Zitat, Seite 74

Durch die Geschichte in „Sieben Minuten nach Mitternacht“ wird dem Leser bewusst, dass viele Menschen sich in schmerzhaften Situationen an trostspendende Lügen und Ideen klammern. Die Wahrheit wird dabei oft schon früher erkannt, als man sie sich eingestehen möchte. Es fällt uns schwer, sie auszusprechen. Eine ausgesprochene Wahrheit wird wahr. Eine Hülle aus Lügen widerum ist trostspendend und wird von unserem Verstand als angenehm empfunden. Angenehmer, als sich den Tatsachen zu stellen und der Wahrheit ins Auge zu blicken. Ein Verlust ist immer schmerzlich. Conor gelingt es nur mühsam den baldigen Verlust seiner Mum zu akzeptieren. Auch wenn ihm bereits früh klar wird, wie die Geschichte in aller Voraussicht ausgehen wird, möchte er das Ende nicht wahrhaben. Er hat Angst und redet es sich schön. Ein menschliches Verhalten.

Die Moral der Geschichte ist dabei so transparent, dass man sie in die unterschiedlichsten Momenten des täglichen Lebens transportieren kann. Ob es sich um den Verlust eines geliebten Menschen, einer Erinnerung, eines Wunsches oder eines angestrebten Weges handelt, ist nicht wichtig. Eine Geschichte geht nicht immer gut aus und die Wahrheit ist eben oft erschreckend schmerzhaft. Dinge, mit denen wir in unserem Leben leider lernen müssen, umzugehen.

Dass sich Patrick Ness in „Sieben Minuten nach Mitternacht“ den Ideen von Siobhan Dowd angenommen hat, fand ich besonders spannend. Die Leidensgeschichte von Conor´s Mum umschreibt dabei leider auch die von Dowd, die durch ihr Brustkrebs-Leiden erschreckend früh aus dem Leben gehen musste. Die Schilderungen von Conor´s Mum haben mich dabei wirklich erschreckt. Die Haare, die bereits zu Beginn der Geschichte ausgefallen sind, deuten auf das Ende einer Chemotherapie hin. Sie trägt bereits Tücher um ihren kahlen Kopf zu bedecken. Man wird Zeuge von ihrem Verfall, der schleichend vorangeht und sie merkbar schwächer werden lässt. Es muss unheimlich schwer und kräftezehrend sein, einen solchen Verfall eines Menschen hautnah miterleben zu müssen. Am Ende ist man sicherlich selbst derart geschwächt, dass man nur schwer wieder ins Leben zurückfindet.
All diese Gefühle und Gedanken kamen während der Geschichte sehr gut herüber. Ness gelang eine sehr einfühlsame und mitreißende Umsetzung. Mich würde interessieren, bis wohin tatsächlich das Grundgerüst von Dowd ging und in welchem Status ihrer eigenen Krankheit sie damit begonnen hatte. Wusste sie bereits beim Schreiben, dass sie sterben wird? Hätte sich die Geschichte unter Dowd´s Feder genauso entwickelt, wie unter der von Ness? Oder hat Ness Dowd nur einen würdevollen Abschied aus dem Leben schenken wollen? Wollte er ihr eine letzte Ehre erweisen und daraus eine Art Lebenswerk machen? Wenn es das Letztere ist, dann ist eines gewiss: es ist ihm mehr als gelungen!

„Sieben Minuten nach Mitternacht“ ist eine traurige und gleichzeitig sehr trostspendende Geschichte. Sie wird vielleicht dem ein oder anderen Menschen helfen können, über den Verlust eines geliebten Menschen hinwegzuhelfen. Sie ist derart einfühlsam und herzergreifend, dass sie einen zu Tränen rührt. Unsere Fantasie geht dabei ihre ganz eigenen verschlungenen Pfade, die durch die ausdrucksstarken Illustrationen im Buch unterstützt werden. Dieses Werk bekommt daher 5 von 5 lebensbejahenden Monstern.

„Du schreibst die Geschichte deines Lebens nicht mit Worten, sagte das Monster. Du schreibst sie mit Taten. Es ist nicht wichtig, was du denkst. Wichtig ist nur, was du tust.

Zitat, Seite 202