Rezension

Müdigkeit des Traumas

Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen - Aharon Appelfeld

Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen
von Aharon Appelfeld

Bewertet mit 4 Sternen

Erwin schläft und schläft und kann kaum mehr erwachen. Es ist das Jahr 1946, und der jüdische Junge, der mit knapper Not überlebte, treibt ziellos durch Europa, auf Zügen, Pferdekarren, stets vor sich hin dämmernd. Denn der Schlaf hält in Erwin das Verlorene lebendig: die grüne, heimatliche Bukowina, die geliebte Mutter, den Vater, der nebenher Romane schrieb. Nach Station in einem Flüchtlingslager bei Neapel und einer abenteuerlichen Schiffspassage findet Erwin sich in Palästina wieder. Der Kibbuz soll den Siebzehnjährigen zum zukunftsfrohen «neuen Juden» erziehen – aber die Fremdheit schmerzt ihn nur umso mehr. Da wird Erwin schwer verletzt. Im Hospital obsiegt wieder der Schlaf – vorerst. Denn genesend liest Erwin die Bibel und lernt, mit den Worten ringend, Hebräisch. Die heilige Sprache seiner Väter zeigt ihm endlich einen Weg, das in Schlaf, Traum und Erinnerung Bewahrte zu retten: Unter neuem Namen beginnt Aharon zu schreiben, und erzählend lässt er die entschwundene Welt in der neuen, uralten Sprache wiedererstehen. (Verlagsseite)

Die Handlung setzt in Neapel ein: Den 16jährigen Erwin hat der Strom der jüdischen Flüchtlinge hierher getrieben. Die Flucht hat er verschlafen, von Erwachsenen aus dem Treck bewacht und getragen. Im Übergangslager schließt er sich einer Gruppe Gleichaltriger an, die sich mit Sport und dem Erlernen der hebräischen Sprache auf ein Leben in Palästina vorbereitet. Immer noch übermannt ihn ständig der Schlaf. In Palästina angekommen wird er für militärische Auseinandersetzungen ausgebildet, verletzt sich beim ersten Einsatz schwer und verbringt die nächsten zwei Jahre zwischen einer Operation und der nächsten im Krankenhaus, immer in der Ungewissheit, jemals wieder gehen zu können.
Erwin – oder Aharon, wie er jetzt heißt – trifft in seinen langen Schlafperioden seine Eltern wieder, und er spürt in sich die Berufung zum Schriftsteller. Um sich der unbekannten hebräischen Schrift zu nähern, schreibt er Bücher des Alten Testaments und jüdische Erzählungen ab.

Dies ist kein typisches Buch eines Holocaust-Überlebenden. Die Gräuel der Nazizeit werden nicht thematisiert oder beschrieben; sie sind der Hintergrund für Erwins gegenwärtiges Leben. Seine Eltern kamen im Lager um – genaueres erfährt man nicht –, er war vom Vater bei einem Bekannten versteckt worden, der ihn hungern ließ und einsperrte. Im Schlaf begegnet er seiner Vergangenheit als tröstliche Realität: Er spricht mit Mutter und Vater, erkennt Verwandte und das Haus, in dem er lebte, befindet sich auf einer Reise in die Heimat. 

In Erwins Kopf und Herz vermischen sich die Erlebnisse seines Alltags mit den Träumen von Früher, den körperlichen Schmerzen und der Sehnsucht nach seiner Zukunft, in der er sich als Schriftsteller sieht und wieder laufen kann. Er wartet darauf, dass ihn die Worte finden, in denen er das Verlorene erzählen und festhalten kann, denn er spürt, wie ihm nach und nach vieles aus seiner Vergangenheit entgleitet. Von seiner Mutter fühlt er sich beschützt; die Arbeit des Vaters, eines Hobbyschriftstellers, den auch Erfolglosigkeit nicht resignieren lässt, spornt ihn an.

Sowohl die überlebenden Erwachsenen als auch die Jugendlichen sind verschlossen und reden nicht über das, was ihnen widerfahren ist und was sie verloren haben. Erwin auch nicht, nicht einmal in seinen Träumen.
Sein Schlaf und seine Träume wirken nicht wie eine Flucht vor dem Geschehenen, sondern wie eine andere Form, eine andere Ebene der Realität, wie etwas, das tatsächlich geschieht. 

Als er ins Krankenhaus kommt, kann er sich mündlich schon gut auf Hebräisch verständigen, aber die Buchstaben sind ganz anders als die der vertrauten lateinischen Schrift. Einer, der schreiben will – und er will in Hebräisch schreiben, weil sich seine deutsche Muttersprache immer weiter von ihm entfernt – muss sich über die Bilder der Schrift dem Inhalt nähern. Auch wenn er bei Freunden und anderen Patienten auf Unverständnis stößt, malt er eisern die Schriftzeichen aus der Bibel ab – für ihn keine religiöse Arbeit, sondern Vorbereitung zum großen Ziel.

Fatalistisch mutet Erwins Einstellung zum Krieg an, denn das Gelobte Land der europäischen Juden war Feindesland, und kaum angekommen, mussten sie sich wieder kriegerischen Auseinandersetzungen stellen. Aber hier können sie sich wehren, obwohl die Gefahr, verletzt oder getötet zu werden, jederzeit besteht. Und tatsächlich erhält Erwin immer wieder Nachrichten von verwundeten Kameraden oder bekommt Besuch von verstümmelten und verletzten Freunden. 

Die biographischen Aufzeichnungen eines Jungen, dem die Kindheit geraubt und dessen Familie ausgelöscht wurde, und der seine Jugend im Krankenbett verbringt, lassen eine schwer zu verkraftende Lesekost erwarten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Mit seinem Glauben, die Eltern irgendwann wieder zu sehen, mit seinem Optimismus, wieder gesund zu werden und seinen Traum zu erfüllen, steckt er den Leser an. Man bewundert die Gelassenheit, in der Erwin trotz seiner inneren Kämpfe und der körperlichen Schmerzen seine Geschichte erzählt.

Fazit:
Ein bemerkenswertes, bewegendes Buch.