Rezension

Neu-Entdeckung eines Exil-Romans

Ein Fenster am East River -

Ein Fenster am East River
von Adrienne Thomas

Bewertet mit 5 Sternen

Anna Martinek aus Brno/Brünn (*1918) konnte 1940 in letzter Minute vor der Deportation durch die Nazis fliehen und arbeitet drei Jahre später als Telefonistin und gute Seele der Werbeagentur „Prima Advertising“ in New York. Anna, stolz auf ihre finanzielle Unabhängigkeit, scheint unter den zahlreichen Emigranten in der Stadt ein Glückskind zu sein.  Das nötige Business-Englisch und interkulturellen Instinkt für amerikanische Befindlichkeiten hat sie sich offenbar problemlos angeeignet. Untereinander unterschieden die Emigranten sorgfältig ihren jeweiligen Flüchtlings- und Einwanderer-Status. Annas Kollege Christoph Wolfsbrunn hat für die Jobsuche eigens seinen Adelstitel abgelegt und wirkt im Reinen mit seiner Bürotätigkeit. Dass der einzige farbige Mitarbeiter in Annas Bürohaus offenbar der Fahrstuhlführer ist und die Lebensbedingungen der Putzfrau Mrs Murphy tauchen eher am Rande auf. Das Betriebsklima im gesamten Bürohaus wirkt etwas zu konfliktfrei.

Wenn auch bescheiden in einer Etage lebend, bis zu der der Aufzug nicht fährt, muss Anna ihre Wohnung mit niemandem teilen (Ausblick vorn: Empire States Building, Ausblick aus dem Küchenfenster: East River mit Fabriken und Schiffstransport von Kriegsmaterial). Durch eine lautstarke Feier in der Wohnung unter ihr, die auch die Feuertreppe zwischen den Etagen belegt, lernt Anna Dr. Thomas Sörensen kennen und lieben. Anna wird von der feiernden Clique sofort adoptiert und vertieft ihre Beziehung zur Nachbarin und Luftschutzhelferin Penny, die aus den Südstaaten stammt. Der Scan ihres gesellschaftlichen Status lässt die Freunde vermuten, sie stamme aus einer Familie von Schuhfabrikanten, was sonst wird in ihrer Heimat produziert und wer sonst könnte sich Hauspersonal und Opernkarten leisten. Tatsächlich waren die Martineks gebildete Zuckerbarone, die gern bürgerliche Frauen aus europäischen Großstädten heirateten … Der Krieg zwingt Annas Clique dazu, regelmäßig aus der betrieblichen und privaten Idylle aufzutauchen. Emmys Mann dient bereits in der US-Army, Tom Sörensen hat sich wiederholt zum Kriegseinsatz gemeldet, was er Anna jedoch verschweigt.

Bei „Prima Advertising“ stellt Anna nicht nur Telefonverbindungen her, als gute Seele des Betriebs  organisiert sie die Kommunikation aus u. a. Druckanweisungen, Depeschen, Telegrammen und dem eigenen Mail-System amerikanischer und britischer Streitkräfte. Spätestens zur Lunchpause am Freitagmittag wird deutlich, dass der Inhalt der Lohntüten bereits verbraucht ist und die Angestellten sich bis zur Lohnzahlung am Abend untereinander Geld leihen müssen. 

Ein zweiter Handlungsstrang führt den Star-Geiger Jürgen Niederode ein, in den Anna sich in Brüssel verliebte – und dem sie Dankbarkeit für ihre Rettung vor der Deportation schuldet. Ein dummer Zufall zwingt auch Niederode zur Flucht aus Europa – und Anna wird von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Die Sprache der Autorin wirkt für einen Klassiker aus den 1940ern angenehm verständlich, wenn man akzeptiert, dass z. B. der Kühlschrank Eisschrank genannt wird. Der Umgang in der Neuausgabe mit dem N- und dem Z-Wort wird ausführlich erläutert. Insgesamt 160 Fußnoten ergänzen jeweils am Kapitelende Informationen zu Personen, Orten, historischen Ereignissen. Wer bereits Romane aus den 40ern gelesen hat, wird deutlich weniger Erklärungen benötigen. Das sehr ausführliche Nachwort zeigt die Entwicklung Hertha Strauchs von der engagierten Rotkreuz-Schwester in Metz zur bestens mit prominenten Autoren vernetzten Emigrantin.

Fazit

Adrienne Thomas‘ (d. i. Hertha Strauch) 1947 im Exil erschienener Roman lässt uns in den New Yorker Büro-Alltag einer jungen Emigrantin aus Brno blicken, die sich zügig integriert hat und noch auf ihre Einbürgerung wartet. Da Anna für Frauen der Kriegsjahre steht, die in einem Büroberuf gezwungenermaßen ihren Lebensunterhalt verdienen, hat mich besonders die Schilderung ihrer Arbeitswelt interessiert. Mit Biografie der Autorin, Zeittafel, editorischer Notiz und umfangreichem Quellenverzeichnis im Anhang war der Roman für mich eine Entdeckung.

Da in meiner Kindle-ebook-Ausgabe nur wenige Fußnoten anklickbar waren, kann ich zurzeit nur die Printausgabe empfehlen.